Montag, Juli 06, 2015

OXI zu Parallelwelten

Es sind krasse Parallelwelten, die sich in Folge der Finanzkrise in Europa aufgebaut haben. Letzte Woche wurde in den Tagesthemen kommentiert, die Griechen sollten doch bitte beim gestrigen Referendum mit Ja stimmen. Die Logik des Kommentators: Dann gebe es ein Ende (der Syriza-Regierung) mit Schrecken, statt einem Schrecken (stockende Verhandlungen) ohne Ende.

Dabei erleben die Griechen den Schrecken (Rezession) ohne Ende schon seit mehreren Jahren. Folgerichtig haben sie mit deutlicher Mehrheit Nein gesagt zu den Forderungen der Gläubigern. Womöglich ist damit ein Ende (Grexit) mit Schrecken eingeleitet - so sieht es in der Welt aus, in der ich lebe, und die sich offenbar deutlich von der jenes Kommentators unterscheidet.

Der Kommentator und ich verwenden die gleiche Redensart - "Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende" - und drücken damit vollkommen gegensätzliche Meinungen aus.

Das macht mir schon länger Sorgen. Denn wie überlegen haben wir uns gefühlt, als vor über 10 Jahren in den USA das öffentlich-mediale Narrativ aus dem Ruder gelaufen ist und so den Irakkrieg ermöglicht hat! Und nun passiert bei uns etwas ganz ähnliches (nur dass es wenigstens nicht in einem Krieg, sondern "nur" in der ewigen Rezession einer Volkswirtschaft durch Austeritätspolitik mündet)!

Von daher: Ganz unabhängig davon, wie es mit dem Euro weitergeht, von mir ein "Vielen Dank, ihr Griechen!" aus tiefster Seele. Denn die Griechen haben mit ihrem Mut und ihrer Standfestigkeit eine Politik gestärkt, die Europa zur Auseinandersetzung mit den blinden Flecken seiner Eliten zwingt. Die Chancen stehen besser denn je, dass wir die Parallelwelten, in denen wir leben, aufbrechen und wieder gemeinsam zur Vernunft finden können.

Samstag, Juli 04, 2015

Kritik an der Struktur des Europäischen Emissionshandels

Die Reduktion von Treibhausgasemissionen ist ein (überlebens-)wichtiges Politikziel. Ein Mechanismus dafür unter vielen ist der Emissionshandel in der EU.

Der funktioniert so: Emittenten kaufen das Recht, Treibhausgase auszustoßen. Konkret kaufen sie ein standardisiertes Finanzprodukt, das kurz "allowance" genannt wird. Eine Allowance erlaubt den Ausstoß einer Tonne CO2 (bzw. einer äquivalenten Menge anderer Treibhausgase). Einmal im Jahr wird abgerechnet, wie viel der Emittent im vorangegangenen Jahr tatsächlich ausgestoßen hat. Die entsprechende Anzahl an Allowances muss er abgeben. Diese Allowances werden vernichtet und sind nicht mehr verfügbar. Hat der Emittent nicht genügend Allowances, muss er eine Strafe zahlen.

Die Allowances können wie Aktien an der Börse gehandelt werden, und wir wissen, wie sie vernichtet werden. Aber wie kommen sie in Umlauf? Es gibt eine politisch definierte Menge an Allowances, die jährlich in der EU in Umlauf gebracht wird (für 2015 sind es knapp über 20 Mrd. im Emissionsmarkt für "power stations and other fixed installations"; es gibt einen separaten Markt für Flugemissionen, aber solche Details klammere ich aus). Zum einen erhalten Emittenten kostenlos Allowances je nach Industrie und Unternehmensgröße. Dieser erste Mechanismus ist primär dazu gedacht, die Einführung des Emissionshandels möglichst reibungsfrei zu gestalten, und verliert im Laufe der Zeit an Bedeutung. Die restlichen Allowances werden durch die Mitgliedsstaaten per regelmäßiger Auktion verkauft, mindestens die Hälfte der Erlöse muss für Projekte im Rahmen des Klimawandels verwendet werden. Der Lebenszyklus der Allowances sieht also so aus:
Eine Allowance kostet übrigens zur Zeit zwischen 7€ und 8€. So weit die grobe Übersicht.

Eine politisch aufgeladene Frage ist natürlich noch, wer überhaupt Allowances kaufen muss, um Treibhausgase auszustoßen. Als Normalbürger darf man schließlich das eigene Haus heizen und Auto fahren, ohne sich am Emissionshandel zu beteiligen, und auch nicht alle Industrien sind gleichermaßen betroffen. Aber hier will ich mich konkreten Fragen der Marktstruktur zuwenden. Ich habe dazu einen kleinen und einen sehr großen Kritikpunkt.
  1. Die relevante Regulierung legt fest (Artikel 6), dass jedes Gebot auf Auktionen ein Vielfaches von 500 oder 1000 Allowances sein muss. Insbesondere ist damit ein relativ hohes Mindestgebot festgelegt. Erstens erhöht dies die Hürden, überhaupt an Auktionen teilzunehmen. Zweitens wird es für Auktionsteilnehmer schwieriger, ihre Nachfragekurve präzise als Gebote zu formulieren. Und all das ohne guten Grund: Die Handelssysteme funktionieren allesamt elektronisch, und die Auktionen arbeiten im Stundentakt. Es wäre also problemlos möglich, Auktionen mit der feinsten Auflösung durchzuführen.

  2. Die harte Festlegung auf eine bestimmte Emissionsmenge pro Jahr ist weltfremd. Natürlich hat die verwendete Technologie eine Auswirkung auf die Emissionsmenge, und das Umrüsten auf umweltfreundlichere Produktionsmethoden ist ja gerade ein Ziel der Politik des Emissionshandels. Allerdings sind diese Umstellungsprozesse sehr langfristig. Kurzfristig wird die Emissionsmenge primär durch die Wirtschaftsleistung bestimmt, also durch die Nachfrage nach Produkten. Diese wird sich nur wegen des bisschen Emissionshandels nicht ändern.

    Folgerichtig wird in einem Jahr also nie genau die politisch bestimmte angepeilte Menge emittiert, sondern entweder zu viel oder zu wenig. Wird zu viel emittiert, dann reicht die Menge der zufließenden Allowances nicht aus, um die tatsächlichen Emissionen abzudecken. Es werden also zwangsläufig irgendwo Strafen gezahlt werden müssen, was den Preis der Allowances in die Höhe treibt, bis eine Allowance genausoviel kostet wie die ansonsten zu zahlende Strafe.

    Wird "zu wenig" emittiert, dann gibt es ein Überangebot an Allowances, was den Preis auf 0 drückt. Tatsächlich ist das auch zwischendurch in der Geschichte des Emissionshandels geschehen.

    Graphisch gezeigt verhält sich der Preis für Allowances in etwa wie folgt, wobei M die angestrebte Emissionsmenge und S die Strafe für eine fehlende Allowance ist:


    Bei perfekter Voraussicht der Marktteilnehmer müsste die Preiskurve bei M sogar vertikal sein. Praktisch ist diese perfekte Voraussicht nicht gegeben, so dass sich eine weniger langweilige Kurve ergibt. Dennoch ist vollkommen unklar, ob die resultierende Kurve irgendeine sinnvolle Erkenntnis wiedergibt. Wahrscheinlicher ist, dass sie wie ein Fraktal im Wesentlichen chaotisch und zufällig aus Implementierungsdetails des Marktes entsteht, und der tatsächliche Informationsgehalt verschwindend gering ist.
Was lernen wir daraus? Zunächst einmal lernen wir, dass Märkte nur begrenzten Nutzen haben, wenn eine Seite des Marktes (in diesem Fall der Erzeuger von Allowances) de facto aus nur einem Teilnehmer besteht. Prinzipiell wäre zwar denkbar, dass Treibhausgas-Senken - also Projekte, die CO2 langfristig aus der Atmosphäre ziehen - auch als Verkäufer von Allowances am Markt teilnehmen könnten, aber dagegen gibt es aus anderen Gründen berechtigte Bedenken.

Die potentiell drastischen Preisschwankungen bei Fehleinschätzung der tatsächlichen Emissionsmenge wurden bereits als Problem erkannt. Was dagegen getan werden kann ist mir aber unklar. Es gibt durchaus Alternativen zum Emissionshandel, um eine Einpreisung der Emissionen zu erzwingen, ganz banal zum Beispiel eine Emissionssteuer.

Wenn man beim Emissionshandel bleiben möchte - vielleicht auch im Hinblick darauf, dass dieser langfristig am ehesten international durchsetzbar ist - könnte die EU-Kommission statt der Emissionsmenge die Preiskurve fixieren. Vom aktuellen Auktionsmodell müsste man sich verabschieden. Konkret könnte die Kommission jederzeit zum Verkauf von Allowances bereitstehen, wobei der Preis vom gleitenden durchschnittlichen Verkaufsvolumen der letzten X Tage abhängt. Auf diese Weise ließe sich eine Preiskurve realisieren, die so aussieht:


Anstatt die in Auktionen verfügbaren Emissionsmengen schrittweise zu reduzieren, würde die Kommission dann diese Kurve im Laufe der Jahre nach links verschieben. Vermutlich hat auch diese Variante ihre Schwächen, aber sie müsste die Planungsunsicherheit eliminieren, die mit drastisch schwankenden Preisen verbunden ist. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass wir auf diesem Gebiet noch viel Erfahrung sammeln müssen.