Freitag, November 18, 2011

Was ist und was sein soll

Die Funken des arabischen Frühlings und der Indignados sind weit über den Mittelmeerraum hinaus geflogen und haben in New York ein Feuer entfacht, dessen Funken in Form der Occupy-Bewegung nun wiederum bei uns angekommen sind. Ich nehme dies zum Anlass, ein paar Gedanken zu veröffentlichen, die ich vor langer Zeit aufgeschrieben habe. Seit etwa drei Jahren verwende ich eine E-Mail-Signatur, die seit einiger Zeit auch als Untertitel mein Blog ziert: Lerne, wie die Welt wirklich ist, aber vergiss niemals, wie sie sein sollte. Dies ist der Hintergrund dieser Signatur.

Jeder, der schon einmal mit politischen Protesten im weitesten Sinne in Kontakt kam, dürfte ein in der ein oder anderen Form immer wiederkehrendes Schema kennen. Ein paar "aufmüpfige junge Leute" haben eine gute, vielleicht sogar etwas revolutionäre Idee, wie die Welt aussehen oder funktionieren sollte. Sie schwingen mehr oder weniger kohärente Reden voll Idealismus und verstehen nicht, wie der Rest der Welt so blind sein kann, die Wichtigkeit ihrer Ideale nicht zu sehen.

Wenn es schwierig wird, sie zu ignorieren, geben irgendwann die im Geiste Älteren — sie sind die Vertreter des Establishments, so sehr das nach Klischee klingen mag — ihre Statements ab. Man habe ja Verständnis für das, was die jungen Leute sagen, aber ihre Ideen sind vollkommen unrealistisch. Die Proteste werden diskreditiert, indem man sie naiv nennt, und der ein oder andere mimt den alterserfahrenen Weisen, obwohl die Dinge, die er sagt, nicht weise sind, sondern einfach nur zynisch.

Das langfristige Ergebnis ist von Protest zu Protest anders. In den meisten Fällen werden die Jungen vom entgegengebrachten Widerstand einfach nur entmutigt und entpolitisiert. In einigen Fällen werden sie radikalisiert. Und manchmal bleiben sie hartnäckig, lernen dazu und setzen ihre Ideen am Ende, in der Regel in abgewandelter Form, um. Wenn dies geschieht wird die Welt meistens zu einem besseren Ort.

Hinter diesem Konflikt stehen zwei grundlegend verschiedene Sichtweisen auf die Welt.

Auf der einen Seite gibt es den Blick auf die Welt wie sie ist. Dieser Blick ist essentiell um in der Welt zurechtzukommen, und jeder Mensch schult ihn mehr oder weniger bewusst sein Leben lang. Mit wachsender Erfahrung wird dieser Blick auf ganz natürliche Weise schärfer.

Auf der anderen Seite gibt es den Blick auf die Welt wie sie sein soll. Wir Menschen sind einzigartig in unserer Fähigkeit, flexibel Einfluss auf unsere Umwelt zu nehmen. Unser Erfolg als Spezies liegt darin, diese Möglichkeit auch zu nutzen. Aber dazu benötigen wir einen Blick dafür, wie die Welt anders aussehen könnte um dann zu entscheiden, wie wir sie verändern wollen.

Diese beiden Sichtweisen sind Gegensätze, die sich ergänzen. Wer zu sehr nur für das schwelgt was sein soll, schätzt womöglich falsch ein, in wie weit seine Ideale überhaupt realisierbar sind, und wie sie — womöglich in angepasster Form — erreicht werden können. Wer im Gegenzug nur den Blick dafür hat, was ist, der steht der Verbesserung der Welt einfach nur im Weg. Wir müssen die beiden Sichtweisen in Einklang bringen, um langfristig erfolgreich zu sein.

Das ist leider gar nicht so einfach, weil die typische Persönlichkeitsentwicklung dem entgegensteht. Mir fällt dazu immer wieder ein Satz aus Die Fetten Jahre sind vorbei ein: "Wer unter dreißig ist und nicht links, hat kein Herz, und wer über dreißig ist und immer noch links, hat keinen Verstand". Dieser Satz ist natürlich falsch. Er ist genau die Art von Pseudoweisheit, mit der das Establishment so gerne versucht, jugendlichen Idealismus zu zerstören. Aber gerade dadurch bringt er das Problem auf den Punkt.

Wir lernen erst im Laufe unseres Lebens, die Komplexität der Welt zu verstehen. Sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen erfordert geistiges Engagement und Demut vor den Grenzen des eigenen Wissens. Trotzdem müssen wir uns dem stellen — viele meiner Texte entstehen letztlich aus diesem Prozess heraus. Die Gefahr ist aber, dass wir vor lauter Verständnis für das, was ist, plötzlich den Blick dafür verlieren, was sein soll.

Ich sehe kein einfaches Rezept um das zu verhindern, sondern kann nur immer wieder einen Rat wiederholen, der ganz besonders auch an mein zukünftiges Ich gerichtet ist: Lerne, wie die Welt wirklich ist, aber vergiss niemals, wie sie sein sollte.

1 Kommentar:

  1. Vogel21:57

    'N Abend, Nicolai,
    hat da meine Nachfrage etwas ausgelöst? ;-)

    Tja, was soll man zum Thema sagen? Dieses, ob ausgesprochen oder unausgesprochen: "Da kammer nix mache, des war schon immer so! Mir sinn doch nur die klaane Lichter!" macht mich dreimal täglich krank! Und: Ich habe - für mich gesprochen - genügend Nachweis, dass die Mehrzahl der Menschen mit dem vorgefundenen Zustand zufrieden ist und über den Preis dafür aktiv nicht Bescheid wissen will, aktiv sich nicht informieren will. Die sind zufrieden, wenn sie die Erkenntnis bestätigt bekommen, dass man nach oben buckeln und nach unten treten muss! Und: Hauptsache billig! Es ist zum kotzen!

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