Arbeitslosigkeit ist eines der der zentralen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das nicht immer so war (Quelle: destatis).
Was war in den 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre anders als heute? Warum gelang es damals, die Kapazität der deutschen Wirtschaft voll auszulasten, mit den bekannten positiven Folgen für die ganze Gesellschaft? Und was hat sich seitdem verändert? Können wir zu Vollbeschäftigung wie vor 40 Jahren zurückfinden? Fragen wie diese haben mich dazu gebracht, mich ernsthaft mit volkswirtschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Ich habe diese intellektuelle Reise, die ich jedem nur empfehlen kann, hier bereits teilweise dokumentiert: #1, #2, #3.
Die Zentralbanker glauben, dass Vollbeschäftigung mit Preisstabilität in Konflikt steht. Sie glauben, Vollbeschäftigung führt zwangsläufig zu erhöhter Preissteigerung, sprich Inflation, und umgekehrt sei Preisstabilität nur möglich, wenn die produktive Kapazität der Volkswirtschaft nicht ausgelastet ist und daher Menschen arbeitslos sind. Deswegen verhindern die Zentralbanken, dass Vollbeschäftigung erreicht wird.
Konkret funktioniert das so. Wenn die Konjunktur anzieht und die Zentralbanker glauben, das könnte zu unerwünscht hoher Inflation führen, dann erhöht die Zentralbank ihre Leitzinsen. Diese Erhöhung schlägt durch auf die Kosten für Kredite, was den Aufschwung abwürgt und so das Erreichen von Vollbeschäftigung verhindert.
Das ist das dreckige Geheimnis der Zentralbanker. Nun ist das natürlich kein Geheimnis, das für Wikileaks interessant wäre, man lernt das nämlich in jedem Makroökonomie-Studium - stellvertretend wird es hier in Lausanne gleich auf der ersten Folie erwähnt. Leider ist die ökonomische Allgemeinbildung eben so schlecht, dass kaum jemand davon weiß.
Ich will nun zwei Fragen nachgehen. Erstens: Angenommen, Preisstabilität und Vollbeschäftigung stehen wirklich zueinander in Konflikt - was sind die politischen Konsequenzen? Und zweitens: Gibt es diesen Konflikt wirklich?
Unabhängigkeit und Entdemokratisierung
Die Zentralbank soll unabhängig von der Politik sein, sagen die Zentralbanker seit langem. Tatsächlich haben sie es geschafft, sich weitgehend der demokratischen Kontrolle zu entziehen. Das Dumme daran ist nur, dass sie politische Entscheidungen treffen: Wenn die Konjunktur anzieht, wird gerne der Leitzins angehoben um den Aufschwung zu bremsen. Aber sollte man den Leitzins schon frühzeitig anheben? Oder sollte man damit nicht noch etwas länger warten um vom Aufschwung zu profitieren, und gegebenenfalls dafür eine etwas höhere Inflation in Kauf nehmen? Das ist eine Entscheidung, bei der verschiedene wirtschaftliche und gesellschaftliche Ziele gegeneinander abgewogen werden müssen. Mit anderen Worten, es ist eine politische Entscheidung, die aber heutzutage keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen ist. Das ist ein klares Demokratiedefizit.
Verschärft wird es durch die Tatsache, dass die Zentralbanker durch ihr Amt wirtschaftlich ausgesorgt haben. Vor Arbeitslosigkeit und ähnlichen Sorgen müssen sie sich nicht fürchten. Vermutlich haben sie nicht einmal echtes Verständnis für die tiefen sozialen und gesundheitlichen Folgen, die Arbeitslosigkeit nach sich ziehen kann. Dementsprechend tendieren sie natürlich dazu, Arbeitslosigkeit als Problem nicht ernst zu nehmen und stattdessen nur auf Preisstabilität zu achten. So kommt es, dass die Situation der breiten Bevölkerung, insbesondere die der Arbeiter und Arbeitslosen, für die Entscheidungen der Zentralbanken de facto keine Rolle spielt. Der von mir eingangs gezeigte Verlauf der Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nicht nur, aber eben auch, eine Folge dieser politischen Entwicklung.
Es ist zwar von Vorteil, wenn die Zentralbank jederzeit entscheidungsfähig ist und nicht durch politisches Durcheinander blockiert werden kann. Aber das entbindet sie nicht von der Pflicht zur demokratischen Legitimation. Im konkreten Fall der Eurozone müsste die EZB dem Europaparlament Rechenschaft schuldig sein und an dessen Weisungen gebunden werden.
Die Unschuld der Arbeitslosen
Es ist heutzutage modisch, Arbeitslosen zu erklären, sie hätten an ihrer Lage selbst Schuld. Schließlich sei jeder seines Glückes - oder eben Pechs - Schmied, und wenn sich die Arbeitslosen nur etwas mehr anstrengen würden, würden sie auch Arbeit finden.
Das steht im krassen Gegensatz zur ökonomischen Lehre der Zentralbanker, nach der Arbeitslosigkeit notwendig ist um Preisstabilität zu ermöglichen.
Faszinierenderweise gibt es trotzdem Menschen, die beide Positionen gleichzeitig vertreten. Einerseits solle die Zentralbank für Preisstabilität sorgen, indem sie einen zu kräftigen Aufschwung verhindert und dadurch die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert, andererseits seien die Arbeitslosen für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Das ist an Doppelzüngigkeit kaum zu überbieten.
Wenn Arbeitslosigkeit als Werkzeug zum Erreichen von Preisstabilität eingesetzt wird, dann muss man die Arbeitslosen, denen damit ein Opfer abgefordert wird, auch entsprechend würdigen. Das sollte für jeden, der auch nur ein Fünkchen Anstand in sich trägt, selbstverständlich sein. Aber an dieser Stelle versagt unsere Politik vollständig.
Ist Arbeitslosigkeit wirklich notwendig?
Damit kommen wir zu der Frage, was denn nun wirklich dran ist an dem Konflikt zwischen Preisstabilität und Vollbeschäftigung. Kernpunkt ist die Phillips-Kurve, eine ursprünglich rein empirische Beobachtung eines inversen Zusammenhangs zwischen Arbeitslosenquote und Lohnsteigerungen, bzw. später allgemeinen Preissteigerungen. Je höher die Arbeitslosenquote, desto geringer waren die beobachteten Preissteigerungen, und umgekehrt.
Daraus schließen die meisten Ökonomen, dass der besagte Konflikt existiert und nicht aus der Welt geschaffen werden kann. Natürlich untermauern sie diese Schlussfolgerung mit Stapeln aus formelgefülltem Papier und komplizierten Theorien, getreu dem Motto, dass derjenige, der am wenigsten zu sagen hat oft am meisten redet, aber sie begehen dabei einen sehr einfachen methodischen Fehler, der ihr Gedankengebäude wie ein Kartenhaus einstürzen lässt.
Sie nehmen nämlich an, dass bestimmte wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen nicht verändert werden können.
Tatsächlich hat man angesichts einer empirischen Beobachtung wie der Phillips-Kurve zwei Möglichkeiten. Entweder, man baut darauf Gedankengebäude auf, um die Anhebung der Arbeitslosenquote (oder der Inflation) zu rechtfertigen und das Gewissen der Zentralbanker zu entlasten. Oder man macht sich Gedanken darüber, ob man die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen so verändern kann, dass Vollbeschäftigung und Preisstabilität gleichzeitig erreicht werden. Dass die meisten Ökonomen die erste Möglichkeit wählen, zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild der Profession.
Es gibt aber vereinzelte Ökonomen, die den zweiten Weg gehen. Dazu gehört der Australier Bill Mitchell, auf dessen Blog ich bereits des öfteren gelinkt habe, sowie der Amerikaner Randall Wray, dessen Buch "Understanding Modern Money" ich sehr empfehlen kann. Sie haben einen ganz konkreten Vorschlag: ein Regierungsprogramm, das unbegrenzt Arbeitsplätze bereitstellt, die den gesellschaftspolitischen Zielen und damit dem Wohl der Gesellschaft dienen.
Die Abschaffung der Massenarbeitslosigkeit
Ich werde diesem Programm, das wahlweise "Job Guarantee" (JG), "Employer of Last Resort" (ELR) oder "Basic Public Sector Work" (BPSW) genannt wird, sicher in Zukunft noch einen eigenen Eintrag widmen. Hier will ich nur kurz umreißen, wie es konkret in der Eurozone aussehen könnte. Unter diesem Programm, das mit den jeweiligen staatlichen Sozialprogrammen koexistiert, bieten die Regierungen der Eurozone jedem, der eine Arbeit möchte, eine Arbeit zu einem europaweit festgelegten Mindestlohn an.
Konkret werden auf europäischer Ebene Richtlinien ausgearbeitet, die die "ELR-Jobs" erfüllen müssen. Alle Kommunal- und Landesregierungen der Eurozone, aber auch gemeinnützige Einrichtungen, können ELR-Jobangebote gemäß dieser Richtlinien anmelden und ausschreiben. Die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit orientiert sich an den öffentlichen Aufgaben der Staaten, typisch sind z.B. Jobs in den Bereichen Pflege, Bau und Instandhaltung von Infrastruktur, etc.
Finanziert werden die Stellen zu 100% von der Europäischen Zentralbank bzw. einem noch zu schaffenden Euro-Finanz- und Arbeitsministerium. Zur Finanzierung des Programms sind weder Steuereinnahmen noch zusätzliche Staatsverschuldung notwendig, es wäre also insbesondere mit den Maastricht-Kriterien jederzeit kompatibel (so dumm diese auch sind). Wem das merkwürdig vorkommt, dem lege ich die Lektüre meiner früheren Einträge zum Thema Modern Monetary Theory nahe, insbesondere den zum Thema Staatsschulden.
Neben den ganz offensichtlichen Vorteilen dieses Programms (positive soziale Auswirkungen, geringere Kriminalität, bessere Versorgung sozialer Einrichtungen, Instandhaltung und Ausbau von Infrastruktur, etc.) gibt es signifikante volkswirtschaftliche Vorteile. So wirkt das ELR-Programm als Puffer für Beschäftigung und als antizyklischer Stabilisator. Es löst in Krisenzeiten fiskalische Impulse aus, ohne dass es Ärger mit dem Stabilitätspakt gibt.
Zudem geht von dem Programm eine preisstabilisierende Wirkung aus. Klassische Konjunkturprogramme tragen oft eine gewisse Inflationsgefahr in sich, weil der Staat dabei de facto am oberen Rand des Preis- und Lohnspektrum einkauft und so ein Preissog nach oben entstehen kann. Die Phillips-Kurve wird typischerweise über einen ähnlichen Effekt erklärt: Bei niedriger Arbeitslosigkeit können Arbeitnehmer höhere Gehälter einfordern. Wenn es Produzenten dann gelingt, die zusätzlichen Kosten auf die Preise weiterzugeben - weil entweder nicht genug Wettbewerb stattfindet oder keine Profite mehr erwirtschaftet werden - dann kann eine Preissteigerungsspirale entstehen.
Das vorgeschlagene ELR-Programm schiebt dem ein Riegel vor, da der Lohn der ELR-Jobs vom Gesetzgeber - konkret also vom Europaparlament - festgeschrieben ist. ELR kauft also Arbeit am unteren Rand des Lohnspektrums ein und agiert dadurch als Preisanker.
... und noch eine Anmerkung zum Schluss
Zugegebenermaßen habe ich in diesem Eintrag einiges vereinfacht dargestellt. Die VWL hat sich seit den Beobachtungen von Phillips weiterentwickelt, wenn auch in eine äußerst merkwürdige Richtung. Anstatt sich zu überlegen, wie Preisstabilität und Vollbeschäftigung in Einklang gebracht werden kann, hat sie große Mengen an Theorien hervorgebracht, mit deren Hilfe das destruktive Verhalten der Zentralbanken den Anschein der Legitimation erhält.
Dummerweise ignorieren diese Theorien die Erkenntnisse von Behavioural Economics weitgehend. Sie unterstellen den Menschen ein Verhalten, das so in der Realität einfach nicht zu finden ist. Ein schönes Beispiel dafür ist die Ricardian Equivalence, die unter anderem vorhersagt, dass jemand, der vom Staat einen Steuererlass bekommt, das ihm zusätzlich zur Verfügung stehende Geld unter keinen Umständen ausgeben wird. Das ist natürlich offensichtlicher Quatsch, aber trotzdem hängen ihm einige Ökonomen an.
Und selbst die, die Unfug wie die Ricardian Equivalence nicht 1:1 unterschreiben würden, kommen nicht unbedingt mit sich ins Reine. Stattdessen konstruieren sie noch kompliziertere Gedankengebäude, in denen die unsinnigen Annahmen noch besser versteckt sind, und für deren Widerlegung noch mehr ausschweifender Text nötig ist. Und auf dieses argumentative Wettrüsten lasse ich mich nicht ein, getreu dem alten Spruch: Never argue with a fool, for they will pull you down to their level and beat you with their experience.