Wie funktioniert eigentlich unser modernes Geldsystem?
Es gab einmal eine Zeit, in der Regierungen ihre Währungen an andere Dinge gekoppelt haben: an Gold, oder an andere Währungen. Das ist heutzutage in der Regel nicht mehr der Fall (wobei man bei der Betrachtung des Euro vorsichtig sein muss): Regierungen haben Währungen eingeführt, in denen sie beliebig Geld erzeugen und vernichten können, und diese Währungen werden international frei gehandelt. Wie funktioniert das System also?
Der erstaunlich blogwütige Bill Mitchell erklärt das ungefähr wie folgt, wobei ich seine Geschichte entsprechend meines Verständnisses des Themas etwas modifiziert habe. Stellen wir uns eine ganz typische Familie vor, bestehend aus Eltern und fünf Kindern, die wir kanonischerweise Alice, Bob, Charlie, David und Eva nennen. Der Kinderreichtum ist vielleicht eher untypisch, aber wie üblich haben die Kinder nicht unbedingt Lust, im Haushalt mitzuhelfen.
Die Eltern sind Volkswirtschaftler und wollen ihren Kindern das Prinzip von Geld anschaulich näher bringen und damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Also führen sie die Regel ein, dass die Kinder für erledigte Arbeiten (Rasenmähen, Staubsaugen, Wäsche aufhängen, was auch immer) Familien-Coupons erhalten - das sind einfach bedruckte Papierstücke. An dieser Stelle frage ich mich, was wohl schlimmer sein mag: VWLer als Eltern, oder Mathematiker als Eltern. Aber die Kinder fragen sich wohl eher, was das ganze soll. Wieso sollten sie wertlose Papierstücke sammeln?
Den Eltern ist das natürlich auch klar. Also kündigen sie an, dass jedes Kind am Ende jeder Woche 10 Coupons an die Eltern bezahlen muss, ansonsten kriegt es Hausarrest. Ferner beschließen die Eltern, die an einer durchschnittlichen deutschen Universität gelernt haben, dass sie einen ausgeglichen Haushalt führen müssen, dass sie pro Woche höchstens 50 Coupons ausgeben werden, die den 50 von den Kindern zu zahlenden Coupons gegenüber stehen.
Nun sind die Kinder natürlich motiviert. Jedes Kind arbeitet für seine 10 Coupons, die am Ende der Woche zurück an die Eltern fließen.
Beobachtung #1: Das Ganze ist eine leicht durchschaubare Parabel mit den Eltern als Regierung, den Kindern als privatem Sektor und Coupons als Währung. Die 10 Coupons, die jedes Kind pro Woche zahlen muss, sind Steuern.
Beobachtung #2: Die Coupons erhalten ihren Wert dadurch, dass die Eltern Steuern erheben. Genauso erhalten "echte" Währungen ihren Wert dadurch, dass sie das einzige gültige Zahlungsmittel für Steuerschulden sind.
Die Kinder erkennen natürlich sehr schnell, dass sie auch untereinander tauschen können: ein paar Coupons gegen Süßigkeiten, zum Beispiel.
Beobachtung #3: Sobald eine Währung einen Wert hat, wird sie zu einem praktischen Tauschmittel für allgemeinen Handel. Dadurch entsteht leicht der Irrtum, dass nicht Steuern sondern etwas anderes die Quelle des Wertes der Währung sind. Das ist aber, wie gesagt, ein Irrtum.
Das Ganze funktioniert ein paar Wochen lang gut. Die Eltern haben ihren Stapel mit 50 Coupons zu Beginn der Woche, die Kinder erledigen Haushaltsarbeiten, für die sie von den Eltern Coupons erhalten. Am Ende der Woche zahlen die Kinder ihre Coupons als Steuern zurück.
In einer Woche aber beschließen Alice, Bob und Charlie, dass es eigentlich eine gute Idee wäre, ein paar Coupons mehr zu verdienen und zu sparen. Dann, so die Idee, können sie sich irgendwann einmal leisten, eine Woche einfach nur zu faulenzen. Die Steuern in dieser Woche würden sie dann mit Ersparnissen begleichen. Also reißen sie sich gleich zu Beginn der Woche um die Arbeiten und arbeiten für insgesamt 50 Coupons.
David und Eva wollen natürlich trotzdem noch arbeiten um Coupons zu verdienen, doch sie müssen erfahren, dass der Coupon-Stapel der Eltern bereits leer ist. Die Regierung hat also keine Nachfrage nach Arbeit mehr, und David und Eva werden arbeitslos.
Was ist passiert? Alice, Bob und Charlie haben zusammen Arbeit im Wert von 50 Coupons angeboten. David und Eva bieten Arbeit im Wert von mindestens 20 Coupons an. Insgesamt wird also Arbeit im Wert von 70 Coupons angeboten. Die Nachfrage nach Arbeit beträgt aber nur 50 Coupons.
Die neoliberale Reaktion der Eltern ist die, die wir im Alltag erleben. Die Eltern beschimpfen David und Eva als zu faul und erklären, dass die beiden am kommenden Hausarrest selbst schuld sind. Das ist natürlich zynischer Unsinn, denn gerade eben haben David und Eva ihren Arbeitswillen erklärt. Aber so läuft die Argumentation nunmal in der Realität.
Die humane Reaktion der Eltern wäre natürlich eine andere. Vielleicht stellen sie fest, dass der Gartenzaun mal wieder gestrichen werden müsste, oder andere Arbeiten getan werden könnten, die zwar nicht dringend notwendig sind, das Zusammenleben aber verschönern könnten. Also beschließen sie einfach, 20 zusätzliche Coupons zu drucken und damit David und Eva für zusätzliche Arbeit zu bezahlen. Der Familienfrieden ist damit gesichert, und das Leben wird auch noch ein wenig schöner.
Aber Moment: die Eltern operieren diese Woche mit einem Defizit von 20 Coupons! Müssen sie das nicht durch Steuern oder Schulden finanzieren? Nein, denn sie können neue Coupons ja einfach ausdrucken, völlig unproblematisch.
Beobachtung #4: Die Regierung muss sich nicht durch Steuern oder Schulden finanzieren. Sie ist immer liquide. Wenn eine Regierung mehr oder weniger Steuern einnimmt ändert dies nichts an ihrer Zahlungsfähigkeit. Die Regierung mit einem Privathaushalt gleichzusetzen ist ein Denkfehler.
Beobachtung #5: Es ist nicht so, dass die Regierung Steuern einzieht, um ihre Ausgaben bezahlen zu können. Umgekehrt ist es richtig: die Regierung muss Geld ausgeben, damit der private Sektor seine Steuerschulden begleichen und gleichzeitig seine Sparziele verfolgen kann.
Vielleicht stecken die Eltern aber immer noch in der neoliberalen Ideologie fest. Sie halten ein Defizit für problematisch und glauben, dieses auszugleichen zu müssen, indem sie in der nächsten Woche die Steuern auf 11 Coupons pro Kind anheben und dadurch einen "Überschuss" erzielen.
Es ist klar, dass die Coupons, die in der nächsten Woche in den Kreislauf einfließen, alleine nicht ausreichen um alle Steuern zu begleichen. Wenn es trotzdem nicht zu Steuerausfällen kommen soll, müssen Alice, Bob und Charlie einige ihrer gesparten Coupons wieder hergeben.
Beobachtung #6: Staatsdefizite entsprechen wachsendem Sparvermögen des privaten Sektors. Wenn der Staat einen Überschuss erwirtschaftet, schrumpfen zwangsläufig die privaten Vermögen.
(Kleine Nebenbemerkung: diese vollkommen simple Beobachtung hat es Vertretern von Modern Monetary Theory ermöglicht, bereits um 2000 die jetzige Wirtschaftskrise mit ihren Kreditausfällen und anderen Folgen vorherzusagen.)
Das einfache Gedankenspiel unserer imaginären Familie ist kein perfektes Abbild eines modernen Geldsystems. Zum Beispiel gibt eine Regierung Geld nicht aus, indem sie dieses druckt. Stattdessen werden einfach Kontostände bei der Zentralbank entsprechend angepasst, während Bargeld im Grunde eine sekundäre Währung ist, die 1:1 an die primäre Währung gekoppelt ist. Genauso könnte unsere Familie den "Coupon-Stand" im Computer in einer Tabelle verwalten. Trotzdem gelten die sechs einfachen Beobachtungen in der echten Welt.
Für Deutschland und andere Euro-Mitgliedsstaaten sind sie mit Vorsicht zu interpretieren, da diese Staaten aus Geldperspektive nicht souverän sind. In der Eurozone besteht die Regierung nur aus der Europäischen Zentralbank, während die nationalen Regierungen (und die darunter liegenden Landes- und Kommunalregierungen) Teil des privaten Sektors sind.
Die wichtigste Beobachtung bleibt aber: ein Staat, dessen Wirtschaft mit einer eigenen modernen Währung arbeitet, ist immer flüssig und kann, rein technisch, soviel Geld ausgeben wie er will. Es gibt keine Finanzierungsgrenzen. Insbesondere heißt das, dass ein Staatsdefizit nicht durch die Aufnahme von Schulden finanziert werden muss (dies geschieht aus rein politischen Gründen). Staatsschulden sind auch keine Belastung für zukünftige Generation, sondern enstprechen im Gegenteil privaten Vermögen, die an die nächste Generation weitergegeben werden.
All das widerspricht natürlich den Geschichten, die wir tagtäglich in den Medien hören, und es widerspricht den versteckten Annahmen, die diesen Geschichten zugrundeliegen. Ich habe einige Zeit auf der Suche nach Fehlern in Modern Monetary Theory verbracht und keine gefunden. Wir haben hier also wohl tatsächlich die überraschende Situation, dass eine Wissenschaft fast einheitlich an Aderlass glaubt.
Ich vermute, dass bei Lesern, die bis hierher gekommen sind (vielen Dank!) und denen diese Ideen nicht bereits vertraut waren, nun eine ganze Menge Fragen im Kopf schwirren. Mir ging das am Anfang auch so, und ich empfehle die Lektüre des bereits oben erwähnten Blogs für weitere Erklärungen, Fallanalysen und jede Menge empirischer Hinweise.
Es brennt mir zwar in den Fingern, zu den häufigsten dieser Fragen noch mehr zu schreiben, insbesondere zu Inflation (kurz: Inflation hat nicht wirklich etwas mit Geldmenge zu tun, was auch immer das überhaupt sein soll, sondern mit dem Verhältnis von Gesamtnachfrage zu Produktionskapazitäten; solange wegen mangelnder Nachfrage industrieweit Kapazitäten brach liegen und massive Unterbeschäftigung herrscht gibt es keine Inflationsgefahr, wie man ja auch in der jetzigen Krise am lebenden Beispiel sieht) und dazu, welche Lehren wir aus all dem für die Eurozone schließen sollten (kurz: Einführung einer Euro-weiten Finanzpolitik mit dem Ziel, in Europa Vollbeschäftigung zu erreichen; dies kann z.B. so ablaufen, dass auf Euro-Ebene Geld erzeugt wird, das dann gemäß wirtschaftspolitischer Kriterien an die Mitgliedsstaaten verteilt wird zum Zwecke der Schaffung von Arbeitsplätzen für unsere Infrastruktur und allgemeine Lebensqualität). Aber für heute ist dieser Eintrag schon sehr, sehr lang geworden. Also vielleicht ein andermal.
Donnerstag, September 02, 2010
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3 Kommentare:
... ich lese mich gerade quer durch deinen Blog. Danke für Deine Mühen und den Ehrgeiz, Deine Gedanken auch anderen zugute kommen zu lassen! Mach bitte weiter so!
Das tut gut, mit Abstand Deine Einträge wieder und wieder zu lesen (und Deine Kommentare anderswo). Mir ist die "eigene Klarheit klar geworden".
Schoiße, manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht!
Ich denke das Problem beginnt dort, wo es nicht nur eine Familie mit Coupons gibt, sondern mehrere und sich das Problem stellt, Dienstleistungen oder Waren in Anspruch nehmen zu wollen, die in jeweils anderen Coupons eingefordert werden, weil diese aufgrund machtpolitischer Zusammenhänge monopolartig z.B. nur in diesen Coupons gehandelt werden. Und damit sind die Schulden keine reinen internen und neutralen Umlaufposten mehr, sondern unterliegen eben diese machtpolitischen Zwängen.
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