Dienstag, Januar 27, 2015

Sado-Maso Europolitik

(Dieser Kommentar ist auch als Gastbeitrag auf Deliberation Daily erschienen.)

Anlässlich des Wahlergebnisses in Griechenland schreibt Stefan Sasse einen klugen Kommentar, in dem er unter anderem den wichtigen Hinweis gibt:
Die Belastungen, denen die Griechen ausgesetzt sind, sind in einer Demokratie auf die Dauer nicht zu ertragen, und für die Griechen gehen sie mittlerweile in die Halbzeit einer Dekade. Den Deutschen reichten seinerzeit zweieinhalb Jahre unter solchen wirtschaftlichen Bedingungen, um alle Demokraten zum Teufel zu wünschen und ihr Glück im Autoritarismus zu suchen.
Davor aber schreibt er:
Das BIP des Landes ist gewaltig eingebrochen, und mit ihm die Gehälter, Löhne und Sozialleistungen, auf denen der bisherige griechische Lebensstandard fußte. Man mag dies wie die meisten Staaten der Europäischen Union, Deutschland voran, als eine ökonomisch notwendige und schmerzhafte Anpassungsoperation sehen, an deren Ende ein gesundes Griechenland den Kampf um wirtschaftlichen Wohlstand erneut aufnehmen kann. In der Realität aber ist die Frage, ob diese Sicht richtig ist – die an dieser Stelle auch nicht beantwortet werden kann – völlig irrelevant.
Ich kann verstehen, dass Stefan dieses Fass an dieser Stelle nicht aufmachen wollte, aber die Frage ist alles andere als irrelevant. Wenn wir aus der ersten großen Wirtschaftskrise der Eurozone lernen wollen, müssen wir diese Frage richtig beantworten.

Da gibt es keinen Zweifel: Die deutsche Mainstream-Position ist gefährlicher, quasi-religiöser, und sadistisch-masochistischer Unfug.

Das ist drastisch formuliert, aber auf mehreren Ebenen gut begründbar. Zunächst ist die Position quasi-religiös: sie fußt nicht auf sauberer volkswirtschaftlicher Analyse, sondern auf dem unreflektierten Glauben an die Lehren der schwäbischen Hausfrau, die aber makroökonomisch nicht anwendbar sind. Ja, es gibt deutsche Ökonomen - auch akademischer Couleur - die im deutschen Mainstream schwimmen. International sind diese Ökonomen ziemlich isoliert.

Stefan hat bereits erklärt, wieso die Position gefährlich ist - siehe das Zitat eingangs.

Vor allem aber ist die Position Unfug, nämlich sachlich falsch. Es gibt Situationen, in denen ein Land tatsächlich wirtschaftlich schwierige Zeiten durchleben muss. Aber solche Situationen sehen anders aus, und können von Demokratien auch gut überlebt werden. Man denke zum Beispiel an Großbritannien oder die USA im Zweiten Weltkrieg. Die Anstrengungen des Krieges hatten drastische wirtschaftliche Konsequenzen, und die Menschen mussten tatsächlich "ihre Gürtel enger schnallen". Aber da waren die Gründe für jeden klar erkennbar, weshalb daraus keine Probe für die Demokratie wurde. Und, was auch noch auffallen sollte: es gab keine Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: wer immer irgendwie wirtschaftlich oder militärisch einsetzbar war wurde eingesetzt.

Warum konnte die Arbeitslosigkeit in Griechenland über 25% steigen? Es ist offensichtlich, dass es den Menschen in Griechenland besser ginge, wenn dort mehr Menschen arbeiten und daher mehr produziert würde. Tatsächlich ist Arbeitslosigkeit immer Verschwendung und nie zwangsläufig notwendig.

Wenn Griechenland 2009 aus dem Euro ausgetreten wäre, dann stünde das Land heute zweifellos deutlich besser da. Das lehren uns die historischen Erfahrungen, die vor dem Zweiten Weltkrieg mit der Aufgabe des Goldstandards gemacht wurden - der Austritt aus dem Euro wäre analog dazu. Ja, eine wieder eingeführte Drachme, oder wie auch immer die neue von Griechenland ausgegebene Währung dann genannt würde, hätte zunächst deutlich an Wert verloren. Aber gleichzeitig hätte die griechische Regierung die Handlungsfreiheit gehabt, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Die Wirtschaft wäre wieder besser gelaufen, und eine Wirtschaft, die gut läuft, ist gleichzeitig eine flexiblere und anpassungsfähigere Wirtschaft.

Wenn ich Alexis Tsipras wäre, würde ich deshalb auch den griechischen Austritt als "nukleare Option" auf dem Verhandlungstisch belassen. Langfristig gesehen braucht Griechenland den Euro nicht wirklich. Aber die Eurozone braucht Griechenland als Mitglied, um langfristig zu überleben: ein "Grexit" würde in der nächsten Krise Nachahmer finden.

Wir stellen also fest: das griechische Leid ist unnötig, wenn man bereit ist, den Euro aufzugeben. Damit ist die deutsche Position sachlich falsch. Aber was, wenn man den Euro beibehalten will?

Die deutsche Position basiert auf einem Fünkchen Wahrheit. Wenn die relative Produktivität, insbesondere gemessen als Marktwert der produzierten Güter dividiert durch dafür gezahlte Gehälter und Löhne, zwischen zwei Ländern verschieden ist, dann führt dies mittelfristig zu einem Ungleichgewicht im Handel zwischen diesen Ländern. Wenn die Länder verschiedene Währung verwenden, dann führt dieses Ungleichgewicht zu einer Verschiebung des Wechselkurses, so dass sich die relative Produktivität und damit der Handel wieder ausgleicht.

Innerhalb der Eurozone gibt es keine Wechselkurse, so dass sich die Handelsströme nicht automatisch ausgleichen. Den Handelsströmen stehen in der Bilanz Geldströme gegenüber, so dass sich das (relativ gemessen) unproduktivere Land auf Dauer verschuldet.

In den meisten ähnlich gestrickten Situationen wird politisch ein direkter Ausgleich geschaffen, so zum Beispiel innerhalb Deutschlands ganz explizit durch den Länderfinanzausgleich. Es gibt aber auch einen impliziten Ausgleich durch die Steuern und Ausgaben der Bundesregierung, die einen signifikanten Teil der Wirtschaftsleistung ausmachen.

Zwischen Griechenland und dem Rest der Eurozone gibt es keinen direkten Ausgleich dieser Form. Die einzige Alternative wäre also ein Angleichen der relativen Produktivität. Hier behauptet die deutsche Position, dass dies nur möglich ist, indem die Löhne und Gehälter in Griechenland jahrelang nicht steigen oder sogar fallen. Das ist offensichtlich falsch, denn schließlich könnten die Löhne und Gehälter auch einfach in Deutschland (und einigen anderen Ländern) einige Jahre lang deutlich schneller steigen.

tl;dr: Die deutsche Position basiert auf den Irrglauben,
  1. dass der Ausgleich in relativer Produktivität durch griechisches Leid und Lohndumping geschehen muss anstatt durch Belohnung deutscher und anderer Arbeiter und Angestellter (weshalb ich die deutsche Position sadistisch-masochistisch nenne), und
  2. dass irgendein Währungsraum der Welt langfristig ohne politische Finanzausgleiche (egal ob explizit oder implizit) funktionieren könnte.

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