Allerorten hört man Seufzen, wenn die Rede von den Staatsschulden dieser Welt ist. So hoch seien sie. Wer soll das denn jemals bezahlen, fragt man? Die Sorge kommt daher, dass wir unsere eigene Erfahrung mit Geld auf die Situation der Staaten übertragen. Die Analogie ist verlockend. Sie ist aber leider auch falsch.
Was ist eigentlich Geld? Als Kinder lernen wir Geld als physikalisches Artefakt kennen. Geld, das sind Münzen und Scheine. Stolz bezahlen wir zum ersten Mal ein Eis selbst — mit Münzen. Später lernen wir, dass es Geld auch in weniger handfester Form gibt, nämlich als Zahl auf dem Konto. Diese neue Erfahrung erweitert unser Verständnis von Geld. Wir "wissen" nun, dass wir Geld auf die Bank tragen können, die es für uns hütet. Unsere Interaktion mit der Bank, bei der wir als Kinder oder Jugendliche lernen, wie man Scheine und Münzen einzahlt und sich Scheine später am Automaten wieder auszahlen lassen kann, festigt das Bild der Bank als Tresor, in dem unser physikalisches Geld lagert. Wir hören auch, dass die Bank mit unserem Geld mysteriöse Dinge tut, weshalb wir Zinsen bekommen. Wir finden das natürlich gut, auch wenn wir es — Hand aufs Herz — nicht so ganz verstehen. Und das, was wir zu verstehen glauben, ist in der Regel falsch.
Vor allem aber hat Geld für uns nach wie vor primär physikalischen Charakter. Wir sehen Geld als ein Ding, und unsere ursprüngliche Erfahrung mit Geld aus der Kindheit hinterfragen wir nicht. Das ist nicht wirklich unsere Schuld. In der Regel gibt es keinen Erwachsenen, der uns dazu ermuntern würde und dabei anleiten könnte. Das steht im deutlichen Gegensatz zum Beispiel zu unserem intuitiven Verständnis der physikalischen Welt, das im Schulunterricht gehörig auf den Kopf gestellt wird. Wer käme denn als Kind von alleine auf die Idee, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt? In der Schule und anderswo lernt man solche Tatsachen, und erlangt so ein schlüssiges und weitgehend korrektes Bild der physikalischen Welt, das sich vom kindlichen Verständnis in vieler Hinsicht deutlich unterscheidet. Eine äquivalente Bildung in Sachen Geld fehlt.
Daher denken die meisten Menschen leider auch als Erwachsene so über Geld, als wäre es ein physikalisches Artefakt. Für das Privatleben ist das in Ordnung. Menschen sind über Jahrtausende davon ausgegangen, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums steht. Die falsche Annahme hat unseren fernen Vorfahren nicht geschadet, weil sie für ihren Wirkungskreis schlicht egal war. Genauso ist die Vorstellung von Geld als physikalischem Artefakt im Privatleben nicht weiter schädlich, weil sie dort als Analogie gut funktioniert. Aber die Analogie bricht in sich zusammen, sobald man die Mikroökonomie verlässt und über Wirtschafts- und Finanzpolitik auf makroökonomischer Ebene redet.
Aber was ist Geld denn nun wirklich? Es gibt keinen Konsens, der von heute auf morgen als ewige Wahrheit in die Schulbücher aufgenommen werden könnte, aber es gibt hilfreiche Sichtweisen, die unser Verständnis erweitern können. Insbesondere gibt es den Zusammenhang von Geld und Schulden, Vermögen und Verbindlichkeiten, der für mich hier im Vordergrund steht.
Geld ist Ausdruck einer Beziehung zwischen Menschen oder Institutionen. Jede Form von Geldbesitz ist gleichzeitig die Schuld bzw., mit weniger moralischen Konnotationen gesagt, die Verbindlichkeit eines anderen. Das Geld auf dem Bankkonto ist unser Vermögen und zugleich eine Verbindlichkeit der Bank. Wenn wir eine Anleihe besitzen, wie zum Beispiel einen Bundesschatzbrief, dann ist dieses Vermögen zugleich Verbindlichkeit des Ausgebers der Anleihe. Und die Banknoten, die wir mit uns tragen, sind
Verbindlichkeiten der Zentralbank.
Diese Erkenntnis spiegelt sich in den Prinzipien der Buchführung wieder. Ich will das an einem Beispiel illustrieren. Wenn jemand etwas online auf Rechnung gekauft und noch nicht bezahlt hat, dann hat der Verkäufer ihm gegenüber eine Forderung. Diese Forderung ist eine Form von Geldvermögen. Auf der anderen Seite hält der Käufer eine Verbindlichkeit in seinen Büchern, nämlich die Verpflichtung, die Rechnung zu bezahlen.
Wie bezahlt der Käufer seine Rechnung? In der Regel per Überweisung, also mit Geld von seinem Konto. Dieses Geld auf dem Konto ist eine Forderung, die er gegenüber der Bank hat. In seiner privaten Bilanz löschen sich diese Forderung und die Verbindlichkeit gegenüber dem Verkäufer gegenseitig aus, sobald er die entsprechende Überweisung tätigt. Gleichzeitig wird die Forderung des Verkäufers uns gegenüber in eine Forderung gegenüber der Bank umgewandelt.
Man erkennt an diesem Beispiel einige zentrale Grundprinzipien eines Geldsystems:
- An jeder Transaktion sind, wenn man genau hinsieht, nicht nur zwei, sondern mindestens drei Parteien beteiligt: ein Käufer, ein Verkäufer, und ein Zahlungsdienstleister. In unserem Beispiel wird die letzte Funktion durch die Bank ausgefüllt. Wenn Käufer und Verkäufer ihre Konten bei verschiedenen Banken führen, dann erfüllen die Banken gemeinsam mit einer Clearingstelle (im Zweifelsfall ist das die Zentralbank) diese Funktion. Bei einer Barzahlung ist der Zahlungsdienstleister die Regierung in Form der Zentralbank, deren Dienstleistung in diesem Fall lediglich in der Produktion von Bargeld besteht.
In jedem Fall stehen sowohl der Käufer als auch der Verkäufer in einer Geschäftsbeziehung zum Zahlungsdienstleister. Der Käufer hat zu Beginn eine Forderung gegenüber dem Zahlungsdienstleister, die dann als Zahlung in den Besitz des Verkäufers übergeht. Dieses Drei-Parteien-Prinzip wird besonders von den italienischen Circuitists gerne betont.
- Dadurch, dass der Käufer seine Schulden beglichen hat, ist die Bilanzsumme der Volkswirtschaft insgesamt geschrumpft. Vorher war die Bilanzsumme insgesamt gestiegen, als der Verkäufer implizit einen kurzfristigen, zinsfreien Kredit gewährt hat. Gleiches gilt für die Brutto-Geldvermögen, also die Summe aller finanzieller Forderungen ohne Gegenrechnung der Verbindlichkeiten. Durch den impliziten Kredit wurde eine neue Forderung geschaffen, und durch die Rückzahlung des Kredits wurde sie wieder vernichtet.
- Anders sieht es beim Netto-Geldvermögen aus, also wenn man die Verbindlichkeiten von den Forderungen abzieht. Das persönliche Netto-Geldvermögen des Käufers schrumpft durch den Kauf, was hoffentlich durch den realen Wert der gekauften Ware ausgeglichen wird. Aber über alle beteiligten Parteien aufsummiert bleibt das Netto-Geldvermögen gleich.
An dieser Stelle sei der
Balance Sheet Visualizer empfohlen, auf dem man sich die Auswirkungen vieler wirtschaftlicher Transaktionen aus Sicht der Buchführung einmal selbst veranschaulichen kann. Dabei wird auch schnell klar, dass das Netto-Geldvermögen, wenn man es über
alle wirtschaftlichen Akteure summiert,
immer konstant bleibt, weil jeder Forderung eine gleich hohe Verbindlichkeit gegenüber steht.
Genauso wird klar, dass Staatsschulden einfach nur das rechnerische Gegenstück zum Netto-Geldvermögen des privaten Sektors plus Ausland sind. Mit dieser Erkenntnis sieht man in der Austeritätsdebatte klarer. Staatsschulden sind nichts Schlechtes, genau wie Geldvermögen im privaten Sektor nichts Schlechtes sind.
Sicher, wenn die Vermögen zu ungleich verteilt sind, dann sollte man dagegen etwas tun. Eine daran ausgerichtete Politik sähe aber ganz anders aus als das, was bei uns zur Zeit passiert. Und abgesehen von Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen ist es doch gut, wenn Privatpersonen in der Lage sind, ordentliche Vermögen und die damit verbundene wirtschaftliche Freiheit zu erlangen. Entsprechend sind auch die damit verbundenen Staatsschulden gut.
Die Höhe der Staatsschulden ist in der Eurozone nur deshalb so problematisch, weil die Mitgliedsstaaten nicht mehr
monetär souverän sind. Ein vergleichender Blick in die USA ist da lehrreich. Der Schuldenstand der meisten US-Bundesstaaten liegt deutlich unter 20% des jeweiligen BIP. Die Finanzmärkte dort würden selbst die Maastricht-Grenze von 60% für die Bundesstaaten nicht akzeptieren. Es ist also kein Wunder, dass sich die Finanzkrise in der Eurozone zu einer Schuldenkrise entwickelt hat. Schließlich sind die Eurostaaten in Geldfragen in der gleichen Situation wie die US-Bundesstaaten.
Der Blick in die USA zeigt aber auch,
wie die Eurozone repariert werden kann. Die dortige Bundesregierung ist monetär souverän und
kann daher einen beliebig hohen Schuldenstand erreichen, ohne von den Finanzmärkten bedrängt zu werden. Man erinnere sich an das totale Desinteresse der Märkte an der Herabstufung durch Standard & Poor's.
Dies ist der Weg, der auch für die Eurozone vorgezeichnet ist. Eine monetär souveräne europäische Institution wird analog zur US-Bundesregierung auf lange Sicht den größten Teil der Schulden der Mitgliedsstaaten übernehmen, und sie wird auch danach fiskalisch aktiv bleiben, entweder direkt mit einem eigenen Haushalt oder indirekt über Weisungsbefugnisse an die Euromitglieder. Vor einigen Monaten mag das noch utopisch geklungen haben, aber da es der einzige gangbare Weg ist wird er nach vielem Hin und Her gegangen werden. Der Kauf von Anleihen durch die EZB und der Aufbau von EFSF, ESM und Fiskalpakt sind die ersten Schritte in diese Richtung.
Angesichts dessen möchte ich mit zwei Aufrufen schließen. Erstens, emanzipiert Euch von der kindlich-naiven Vorstellung von Geld als physikalischem Ding, und damit auch von dem Glauben, dass öffentliche Schulden und Defizite inhärent schlecht sind. Natürlich gibt es viele Staatsausgaben, die dumm sind. Aber unabhängig davon, dass einzelne Ausgaben schlecht sein können, ist ein langfristiges öffentliches Defizit meistens eine gute Sache, da es die Wirtschaft und die Menschen im privaten Sektor stützt.
An dieser Stelle grenzt sich
Modern Monetary Theory ganz bewusst von Keynes ab. Der Staatshaushalt sollte sich antizyklisch bewegen, aber es gibt keinen Grund, einen langfristig ausgeglichenen Haushalt zu fordern. In der Regel ist ein Defizit auch im langfristigen Durchschnitt notwendig und gut, da es dem Verhalten des Privatsektors besser entspricht.
Überlegt Euch zweitens, welche Machtstrukturen Ihr bei der besagten monetär souveränen Institution für Europa vorfinden wollt. Sie wird über Geldflüsse in einer Größenordnung entscheiden, die die wirtschaftliche Entwicklung der Eurozone nachhaltig fördern, aber auch beschädigen können. Damit wird sie langfristig über das Schicksal von mindestens 300 Millionen Menschen mit bestimmen — deutlich mehr, wenn die Eurozone planmäßig ausgeweitet wird. Wer soll da am Hebel sitzen? Wie kann gewährleistet werden, dass diese Institution nicht im Interesse der Banken oder der sprichwörtlichen 0,1%, sondern im Interesse der gesamten Bevölkerung handelt? Darüber sollten wir nachdenken, bevor Tatsachen geschaffen werden. Ich wünsche uns allen viel Erfolg.