Montag, Oktober 11, 2010

Unsichtbare Revolutionen

Welche Veränderungen des letzten Jahrhunderts haben unsere Gesellschaft am stärksten (um)geformt?

Eine spannende Frage, finde ich, mit vielen möglichen Antworten. Man kann sie aus politisch-historischer Perspektive beantworten mit den Geschehnissen, die später einmal in den Geschichtsbüchern stehen werden: die Weltkriege und der Kalte Krieg; die sozialen Veränderungen wie die Emanzipation der Frauen und die Umweltbewegung. Bei dieser Perspektive muss man allerdings aufpassen, ob man nicht womöglich Symptome und Resultate aus Versehen für Ursachen hält.

Schließlich ist die Frage nicht, in welcher Hinsicht sich unsere Geselltschäft (um)geformt hat, sondern warum sie sich (um)geformt hat.

Die meisten Menschen werden auf die Frage nach den Auslösern wahrscheinlich aus einer technischen Perspektive antworten und Erfindungen bzw. Entwicklungen wie das Auto, das Fernsehen, digitale Armbanduhren, Computer, Handys, und das Internet nennen. Das 20. Jahrhundert war auch tatsächlich ein Jahrhundert atemberaubend schneller technischer Entwicklung.

Aber dennoch bin ich von diese Antworten nicht so recht befriedigt. Es gibt andere Veränderungen, die sich langsam vollziehen und subtil, so dass wir ihrer meist nicht so recht bewusst sind und sie nicht hinterfragen. Gerade deshalb können sie aber unser Denken so vollkommen verändern, dass wir uns wenigsten ab und zu explizit mit ihnen auseinandersetzen sollten.

Heute will ich zwei Kandidaten vorstellen, von denen ich glaube, dass sie zu den wichtigsten "unsichtbaren Revolutionen" des letzten Jahrhunderts zählen.

1. Die Klaustrophobie der Menschheit

Seit Mitte des letzten Jahrhunderts haben wir Fotos der Erde - und wir finden das normal! Dabei ist es ein symbolischer Höhepunkt für gleich zwei jahrhundertelange Entwicklungen.

Zum einen wurde der Menschen zunehmend aus dem Zentrum des Universums gedrängt. Viele Menschen haben mit dieser Vorstellung so ihre Schwierigkeiten.

Zum anderen leben wir heute mit dem Gefühl, dass es keine weißen Flecken auf den Landkarten mehr gibt. Die plausible Existenz von Abenteuer jenseits der Grenzen unseres Horizonts ist uns durch die moderne Technik genommen worden.

Diese Sicht ist zwar einerseits nicht wirklich richtig. Es ist ja schon ein Klischee, dass wir über die Tiefsee (anscheinend) weniger wissen als über den Weltraum. Unerkundetes gibt es also eigentlich genug, aber das vorherrschende Gefühl ist ein anderes.

Unser Verständnis von uns selbst und unserer Welt muss sich dadurch geändert haben, und ich bin mir selbst nicht ganz im Klaren wie, und ob in guter oder in schlechter Richtung. Die eingangs erwähnte Umweltbewegung nährte sich ganz sicher auch aus dem gewachsenen Bewusstsein, dass die Erde alles ist, das wir haben.

Auf der anderen Seite hatten Gesellschaften früher immer ein Ventil für ihre Hyperaktiven, indem sie sie (bestenfalls) als Entdecker oder (schlimmstenfalls) als Eroberer ins Unbekannte geschickt haben. Dieses Ventil existiert auf der Erde nicht mehr in dieser Form, und ich frage mich, ob man nicht bewusst eine Besiedlung des Weltraums auch aus diesem Grund anstreben sollte.

Natürlich würden wir auch trotz Besiedlung des Weltraums nie mehr (modulo eines vollkommenen Zusammenbruchs unserer heutigen Zivilisation) in den Zustand zurückkehren, in dem wir eine Gegend erkunden müssen, indem wir sie persönlich besuchen. Erkundungssatelliten werden in der interplanetaren Raumfahrt immer eine Rolle spielen bevor tatsächlich Siedlungen gebaut würden.

Dennoch sollten wir uns die Frage stellen: leidet die Menschheit an Klaustrophobie? Ich persönlich sehne mich tatsächlich ab und zu nach weißen Flecken auf der Landkarte, auch wenn ich intellektuell natürlich weiß, dass es im Prinzip noch genug zu entdecken gäbe. Ob es einem signifikanten Teil der Bevölkerung bewusst oder unbewusst ähnlich geht? Ich weiß es nicht - genau für solche Fragen gibt es eigentlich Geisteswissenschaften.

2. Der Mythos Wettkampf

Als ich in Fribourg auf den Joint Operations Research Days war ist mir bei einem Vortrag eines Doktoranden ein Kommentar aufgefallen, der eigentlich gar nicht mathematischer Natur war.

Der Redner meinte, wir Menschen seien im ständigen Konkurrenzkampf und Wettbewerb untereinander. In der Tat ist diese Vorstellung so weit verbreitet, dass Konkurrenzkampf nicht nur als normal gilt, sondern sogar normativ ist. Wettbewerb wird von vielen Menschen als Ziel an sich verstanden. Wer Wettbewerb und Konkurrenz hinterfragt wird höchstens milde belächelt.

Dabei ist die Vorstellung des ewigen Konkurrenzkampfs vollkommen falsch.

Ich schlage euch, meinen Lesern, hiermit ein Selbst-Experiment vor. Beobachtet euch eine Woche lang selbst und notiert bewusst, wann ihr mit anderen Menschen konkurriert, und wann eure Interaktionen mit anderen Menschen eher sozialer und kooperativer Natur sind.

Bei mir war das Ergebnis eindeutig: natürlich gibt es Konkurrenzsituationen, aber sie sind sehr deutlich in der Minderheit, verglichen mit anderen Arten der Interaktion. Ich würde wetten, dass selbst für irgendwelche Investmentbanker die klar überwiegende Mehrheit aller Interaktionen mit anderen Menschen von sozialer bzw. kooperativer Natur ist und mit Konkurrenz nichts zu tun hat.

Woher kommt also der Glaube, Konkurrenz dominiere unser aller Verhalten?

Eine wichtige Rolle spielt die banale Tatsache, dass Konkurrenz spektakulär ist. Nicht nur die Medien stürzen sich darauf, auch Wissenschaftler zieht sie in ihren Bann. Daraus entstand im letzten Jahrhundert die durchaus nützliche und interessante Spieltheorie. Darüber hat dann leider so mancher, der sich professionell mit dem Konkurrenzverhalten von Menschen beschäftigt, vergessen, dass diese Verhaltensweise in Wirklichkeit nur einen Bruchteil menschlichen Handelns ausmacht.

Verbunden hat sich das dann einerseits mit der ganz ähnlich entstandenen und ebenso absurden Vorstellung, dass der Homo oeconomicus ein vollständiges Bild der menschlichen Natur ist, und andererseits mit politischen Strömungen, die ihre Ideologien nur allzugern zur unverrückbaren Wahrheit definieren wollten.

Heraus kommt ein Weltbild, das von den Menschen verlangt, sich ständig wie in einer Konkurrenzsituation zu verhalten, obwohl das überhaupt nicht mit der menschlichen Natur zusammenpasst.

Dieses Weltbild hat sich schleichend entwickelt und unser gesamtes Denken unterwandert, und es sieht so aus, als würden wir uns dadurch mehr schaden als nützen.

Social Engineering

Es ist also wichtig zu verstehen, wie diese schleichenden Veränderungen funktionieren, wodurch sie ausgelöst werden, und welche Folgen sie haben. Aber es stellt sich auch die umgekehrte Frage: können wir solche schleichenden Veränderungen erzeugen, mit dem Ziel, bestimmte Aspekte unserer Gesellschaft zu verbessern?

Es geht also um Social Engineering - nicht zu verwechseln mit Social Engineering. Die Vorstellung davon löst sicher bei vielen Abstoßungsreflexe aus, und man muss schon ein sehr vertrockneter Technokrat sein, um dieser Idee vollkommen unkritisch gegenüberzustehen. Andererseits gibt es drei wichtige Gründe, die Abstoßungsreflexe zumindest zeitweise zu unterdrücken:

  1. Wie jede Technologie wäre auch diese stets zum Guten wie zum Bösen nutzbar.

  2. Social Engineering wird bereits in großem Stil eingesetzt, und zwar, wie ich persönlich finde, nicht gerade zu einem guten Zweck.

  3. Es gäbe einige implizite Glaubenssätze in unserer Gesellschaft, deren Veränderung vermutlich eine langfristige Besserstellung der breiten Bevölkerung zur Folge hätte.


Mit dem letzten Punkt meine ich nicht nur den bereits erwähnten Mythos des permanenten Konkurrenzkampfs, sondern zum Beispiel auch die vorherrschende Vorstellung des freien Markts, den der Staat auf jeden Fall alleine lassen muss weil sonst die Welt untergeht (oder so). Auch diese Vorstellung vom für die Gesellschaft positiven freien Markt gehört zu den unsichtbaren Revolutionen - ich habe sie eingangs nicht erwähnt, damit im Internet noch genug Platz bleibt. Dieser Post wird schließlich auch so sehr lang.

Kann man angesichts dieser - empirisch widerlegten - Vorstellung nicht etwas tun?

Es ist schwierig, einen einmal in die Welt gesetzten Mythos wieder zu entfernen. Aber vielleicht kann man ihn ja so verbiegen, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Schließlich können Märkte ja tatsächlich positive Resultate für die Gesellschaft erzielen, aber eben nur, wenn die Rahmenbedingungen richtig sind.

Über einen möglichen Weg dorthin bin ich gestolpert, als ich neulich hier einen Post geschrieben habe. Der Gedanke war dabei in etwa der folgende:

Demokratische Marktwirtschaft bedeutet: der Staat gestaltet die Märkte so, dass die Beteiligten derart gegeneinander ausgespielt werden, dass dabei das bestmögliche Resultat für die am schlechtesten gestellten Menschen im Land erzielt wird.

Durch diese Formulierung wird die Leistungsfähigkeit der Märkte nicht in Frage gestellt, eher im Gegenteil. Somit wird auch einem Hardliner der Ideologie des freien Marktes eher ermöglicht, dem Satz zuzustimmen und ihn als eigene Idee zu übernehmen. Gleichzeitig wird dieser Leistungsfähigkeit aber ein Ziel gegeben und die Idee ins Spiel gebracht, dass "der Markt" Hilfe braucht in Form eines gestaltenden Staates. Die Formulierung beinhaltet auch eine Komponente, die den Staat implizit über Firmen und Banken, gleichzeitig aber unter die Menschen stellt. Sie zementiert dadurch eine Schlüsselidee progressiven Denkens.

Ich weiß nicht, wie leicht oder schwer es wäre, diesen Satz ins Mainstream-Gedankengut einzuschleusen. Aber stellt euch einfach vor, in den Talkshowrunden Deutschlands wäre der oben zitierte Satz so selbstverständlich wie heutzutage die Vorstellung, der freie Markt würde ganz von alleine alles gut machen. Würde das nicht von ganz alleine zu einer deutlich besseren Politik führen?

2 Kommentare:

Beatus hat gesagt…

Das Wettkampfprinzip ist ein Kind der Aufklärung, die das Individuum mit gleichen Rechten ausstattet und damit den Wettbewerb um die Sonnenplätzen der Gesellschaft eröffnet, der in der Ständegesellschaft nicht vorgesehen war. Da das Wettkampfprinzip naturgemäß den Gewinnern besonders gut gefällt und diese normalerweise den Ton im gesellschaftlichen Diskurs angeben, hat es eionen selbstverstärkenden Charakter, der zur vollständigen Durchdringung unserer gesellschaft geführt hat. Besonders gut läßt sich das an der Bedeutung des Wettkampfsports ablesen.
Natürlich hast Du Recht: Es wichtig dem Wettbewerb die Kooperation gegenüberzustellen, um unsere Gesellschaft weiter zu bringen. Auch in der biologischen Evolution ist die Kooperation oder Kombination von Lebenselementen eine wesentliche Triebfeder der Entwicklung

Anonym hat gesagt…

Diesen Beitrag würde ich unterschreiben.

Wer sich tiefer mit der Materie beschäftigen möchte, dem kann ich 2 recht lange Audios ans Herz legen. (Gut für längere Autofahrten)

Auf http://alternativlos.org/ Folge 29: Weltbildmanipulation . Wie sich die Spieltheorie das Denken veränderte und die Konsequenzen.

Und Folge 20: Über den politischen Diskurs. Unter anderem: Wie sich das Konkurrenzdenken und die freien Märkte sich in den politischen Diskurs einschlich.

LG
Bert