Freitag, September 30, 2011

Die Schock-Strategie, und wie es anders geht

Es ist der Klassiker schlechthin: eine Wirtschaftskrise wird von den Reichen verwendet, um Klassenkampf zu betreiben.

Stellvertretend untertitelt zum Beispiel Nikolaus Piper in der SZ am 29.9. das "Thema des Tages" wie folgt:

Mit der Schuldenkrise verliert Europa seine Rolle als Vorbild: Das Modell des Sozialstaats gerät in Misskredit

Auch im Rest des Artikels wird insinuiert, dass die aktuelle Schuldenkrise in der Eurozone irgendwas mit den sowieso schon zurückgefahrenen Sozialstaaten in Europa zu tun habe. Unsere neoliberale Elite frohlockt über die Gelegenheit, unter diesem und ähnlichen Vorwänden die sozialen Netze weiter zu zerfleddern und die wirtschaftlichen Ungleichheiten zu vergrößern.

Aber was ist die Wahrheit? Lassen wir uns einmal aus der Perspektive von Modern Monetary Theory zusammenfassen:

  1. Der private Sektor will netto finanzielles Vermögen sparen, sei es aus reiner Lust am Horten, zum Aufbau einer "Kriegskasse" im Fall von Unternehmen, oder für die Altersvorsoge (übrigens, zum Thema Vermögen: ein Blick auf die Vermögensuhr kann ab und zu nicht schaden).

    Finanziellem Vermögen muss per Definition immer irgendwo eine finanzielle Schuld gegenüberstehen. Wenn der private Sektor netto im Plus sein soll, dann muss rein rechnerisch entweder das Ausland oder der Staat im Minus sein. Staatsschulden sind also zunächst einmal eine gute Sache, weil sie den Aufbau von privatem Geldvermögen ermöglichen.

  2. In jedem gut funktionierenden Geldsystem gibt es genau einen großen Herausgeber von öffentlichen Anleihen - und zwar die Regierung, die das jeweilige Geldsystem betreibt. In den USA ist das deren Bundesregierung, in Schweden ist es die Regierung in Stockholm, und so weiter. Der Rest der öffentlichen Anleihen, der von Kommunen und Bundesländern herausgegeben wird, macht einen deutlich kleineren Teil aus. Zudem greift die jeweils nächstgrößere Instanz im Zweifelsfall helfend unter die Arme. Beides sorgt für Stabilität.

  3. In der Eurozone gibt es im Gegensatz dazu 17 konzeptionell gleichrangige Herausgeber von öffentlichen Anleihen. Deshalb war die Eurozone von Anfang an labil.

    Sobald hinreichend große Anleger einen Anlass sehen, ihr Vermögen von einem Herausgeber von Anleihen zu einem anderen zu verschieben, lösen sie dadurch eine Änderung der Preise der Anleihen und damit der Yields aus. Dadurch muss dann der betroffene Staat auf neue Anleihen einen höheren Zinssatz bezahlen. Das wiederum erhöht dessen Defizit, und es wird von höheren Ausfallwahrscheinlichkeiten gemunkelt. Das wiederum ist für Anleger ein neuer Anlass, ihr Vermögen von den Anleihen dieses Staates hin zu einem anderen Herausgeber von Anleihen zu verschieben, und der Kreis schließt sich.

    Ein anfänglicher Impuls kann also in einen Teufelskreis ausarten, für den es keine Dämpfung gibt. Der erste größere Schock, den die Eurozone erlebt hat, hat genau diese Dynamik losgetreten.
Dieser grundlegende Konstruktionsfehler der Eurozone hat überhaupt nichts mit dem Sozialstaat zu tun, das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Aber diese Feststellung reich nicht aus. Wenn man immer nur gegen einen Mythos wettert (in diesem Fall der Mythos, der Sozialstaat habe zur Eurokrise geführt) gibt man ihm womöglich nur noch mehr Brennstoff.

Eine positive Botschaft muss also auch sein. Wie kann man den grundlegenden Konstruktionsfehler wirklich beheben?

  1. Da das eigentliche Problem ist, dass dem Großteil des privaten finanziellen Vermögens heutzutage Anleihen von 17 verschiedenen Herausgebern gegenüberstehen, muss zukünftig eben ein großer, zentraler Herausgeber diese Rolle übernehmen. Es kann sich dabei um europäische Anleihen handeln, es könnten aber auch einfach Passiva der EZB sein (also Reserven).

    Ja, richtig, es ist durchaus plausibel, dass zukünftig der größte Teil des Netto-Geldvermögens in Form von Reserven bei der EZB gehalten wird anstatt in Anleihen. Immerhin bezahlt die EZB auch Zinsen auf Reserven, der Unterschied zu Anleihen ist also ohnehin eher oberflächlich.

  2. Der zentrale Unterschied zwischen diesem Vorschlag und Eurobonds ist, dass bei Eurobonds nach wie vor die Euro-Staaten Schuldner sind. Ich dagegen bevorzuge den Weg der weitgehenden Entschuldung der Euro-Staaten ohne Zahlungsausfall, bei dem die Schulden einfach in eine zentrale Bilanz verschoben werden, weil das ehrlicher und einfacher ist.

    Außerdem erleichtert es den Weg hin zum Aufbau einer fiskalpolitisch schlagkräftigen Gemeinschaftsregierung. Ohne eine solche Regierung ist es schwierig, die Wirtschaftskrise, die sich unter der Schuldenkrise versteckt, zu bekämpfen.

  3. Auf dem Weg hin zu diesem Ziel gibt es zwei große Fragen. Erstens: Wie gelingt die Umstellung? Zweitens: Wenn die Umstellung erst einmal gelungen ist, wie kann dann dafür gesorgt werden, dass es auch so bleibt?

  4. Die Umstellung gelingt, indem man Schritt für Schritt beim Rollover der Staatsschulden diese nicht durch neue Staatsanleihen ersetzt. Bisher läuft der Rollover so: alte Anleihen laufen aus und werden durch den jeweiligen Staat zurückgezahlt. Ungefähr gleichzeitig werden in einer Auktion neue Anleihen ausgegeben.

    Dieser Prozess wird ersetzt durch: alte Anleihen laufen aus und werden mit Geld zurückgezahlt, das direkt von einer Euro-zentralen Instanz überwiesen wird. Diese Euro-zentrale Instanz könnte zum Beispiel die EZB sein, die die nötigen Reserven einfach "per Knopfdruck" bereitstellt.

    Natürlich muss irgendwie dafür gesorgt werden, dass das gerecht abläuft, zum Beispiel indem das Volumen für diesen neuen Prozess auf einen bestimmten Betrag pro Kopf beschränkt wird (ein Bezug auf das BIP wäre gegenüber den Menschen in wirtschaftlich schwächeren Staaten ungerecht).

  5. Stellen wir uns nun eine hypothetische Zukunft vor, in der sagen wir 70% der öffentlichen Schulden durch eine zentrale Instanz herausgegeben werden. Wie kann dafür gesorgt werden, dass das so bleibt?

    Der private Sektor will typischerweise netto finanzielle Vermögen aufbauen. Langfristig ist es schwierig, dies gegenüber dem externen Sektor zu tun. Also müssen die öffentlichen Schulden langfristig steigen, und 70% der Neuschulden müssen von der zentralen Instanz kommen, um den Status Quo zu erhalten. Aber wer entscheidet, wie viel und wofür das Geld, das diesen Schulden gegenübersteht, ausgegeben werden soll?

    Ich denke, dass dies letztlich höchst politische Entscheidungen sind und sein müssen. Automatismen, zum Beispiel solche die ans BIP gekoppelt sind, taugen wenig. Schließlich sind 3% Defizit bezogen aufs BIP in vielen Staaten heute viel zu wenig, während prinzipiell - in ferner Zukunft - Zeiten auf uns zukommen könnten, in denen bereits ein ausgeglichener Haushalt gegen die Inflationsbarriere stößt, und ein staatlicher Überschuss wirtschaftlich am sinnvollsten wäre.

    Es sind also politische Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen, die der entsprechenden Legitimation bedürfen. Ja, ich wiederhole mich, aber im Grunde darf diese Macht nur beim Europäischen Parlament (evtl. beschränkt auf MEPs aus der Eurozone) liegen. Dieses kann dann die politische Entscheidung treffen, entweder selbst Geld auszugeben, oder Geld an die Mitgliedsstaaten zu verteilen, damit diese das notwendige Defizit erzielen können, ohne dass es zu Ungleichgewichten bei der Zusammensetzung der öffentlichen Schulden kommt.

  6. Ach ja, und lasst gefälligst den Internationalen Währungsfonds aus dem Spiel. Einmischung durch den IWF hat noch niemandem wirklich gut getan. Er hat keine Legitimation, um in der Eurozone mitzumischen, und wir brauchen ihn auch nicht.
Es gibt noch mehr zu tun, als ich angesprochen habe. Mit einer Umstrukturierung der öffentlichen Schulden kann nämlich die zugrunde liegende Wirtschaftskrise nicht beendet werden. Dafür muss das deutsche Lohndumping beendet werden, und die Eurozone braucht einen kräftigen Konjunkturimpuls, zum Beispiel über eine Job-Garantie. Genauso ist es eine gute Idee, die Umverteilung von Einkommen und Vermögen wieder etwas zurück zu drehen, indem stark progressive Einkommenssteuern (auch auf Kapitalerträge!) und Vermögenssteuern eingeführt oder ausgeweitet werden. Aber diese Maßnahmen alleine können den fundamentalen Konstruktionsfehler der Eurozone eben auch nicht beheben: es braucht beides.

Am wichtigsten aber bleibt, dass wir denjenigen, die die Schuldenkrise nutzen wollen, um den Sozialstaat abzubauen, Paroli bieten. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, und diese so sinnvolle und hart erkämpfte Institution muss erhalten bleiben.

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