Arbeitslosigkeit ist eines der der zentralen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das nicht immer so war (Quelle: destatis).
Was war in den 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre anders als heute? Warum gelang es damals, die Kapazität der deutschen Wirtschaft voll auszulasten, mit den bekannten positiven Folgen für die ganze Gesellschaft? Und was hat sich seitdem verändert? Können wir zu Vollbeschäftigung wie vor 40 Jahren zurückfinden? Fragen wie diese haben mich dazu gebracht, mich ernsthaft mit volkswirtschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Ich habe diese intellektuelle Reise, die ich jedem nur empfehlen kann, hier bereits teilweise dokumentiert: #1, #2, #3.
Die Zentralbanker glauben, dass Vollbeschäftigung mit Preisstabilität in Konflikt steht. Sie glauben, Vollbeschäftigung führt zwangsläufig zu erhöhter Preissteigerung, sprich Inflation, und umgekehrt sei Preisstabilität nur möglich, wenn die produktive Kapazität der Volkswirtschaft nicht ausgelastet ist und daher Menschen arbeitslos sind. Deswegen verhindern die Zentralbanken, dass Vollbeschäftigung erreicht wird.
Konkret funktioniert das so. Wenn die Konjunktur anzieht und die Zentralbanker glauben, das könnte zu unerwünscht hoher Inflation führen, dann erhöht die Zentralbank ihre Leitzinsen. Diese Erhöhung schlägt durch auf die Kosten für Kredite, was den Aufschwung abwürgt und so das Erreichen von Vollbeschäftigung verhindert.
Das ist das dreckige Geheimnis der Zentralbanker. Nun ist das natürlich kein Geheimnis, das für Wikileaks interessant wäre, man lernt das nämlich in jedem Makroökonomie-Studium - stellvertretend wird es hier in Lausanne gleich auf der ersten Folie erwähnt. Leider ist die ökonomische Allgemeinbildung eben so schlecht, dass kaum jemand davon weiß.
Ich will nun zwei Fragen nachgehen. Erstens: Angenommen, Preisstabilität und Vollbeschäftigung stehen wirklich zueinander in Konflikt - was sind die politischen Konsequenzen? Und zweitens: Gibt es diesen Konflikt wirklich?
Unabhängigkeit und Entdemokratisierung
Die Zentralbank soll unabhängig von der Politik sein, sagen die Zentralbanker seit langem. Tatsächlich haben sie es geschafft, sich weitgehend der demokratischen Kontrolle zu entziehen. Das Dumme daran ist nur, dass sie politische Entscheidungen treffen: Wenn die Konjunktur anzieht, wird gerne der Leitzins angehoben um den Aufschwung zu bremsen. Aber sollte man den Leitzins schon frühzeitig anheben? Oder sollte man damit nicht noch etwas länger warten um vom Aufschwung zu profitieren, und gegebenenfalls dafür eine etwas höhere Inflation in Kauf nehmen? Das ist eine Entscheidung, bei der verschiedene wirtschaftliche und gesellschaftliche Ziele gegeneinander abgewogen werden müssen. Mit anderen Worten, es ist eine politische Entscheidung, die aber heutzutage keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen ist. Das ist ein klares Demokratiedefizit.
Verschärft wird es durch die Tatsache, dass die Zentralbanker durch ihr Amt wirtschaftlich ausgesorgt haben. Vor Arbeitslosigkeit und ähnlichen Sorgen müssen sie sich nicht fürchten. Vermutlich haben sie nicht einmal echtes Verständnis für die tiefen sozialen und gesundheitlichen Folgen, die Arbeitslosigkeit nach sich ziehen kann. Dementsprechend tendieren sie natürlich dazu, Arbeitslosigkeit als Problem nicht ernst zu nehmen und stattdessen nur auf Preisstabilität zu achten. So kommt es, dass die Situation der breiten Bevölkerung, insbesondere die der Arbeiter und Arbeitslosen, für die Entscheidungen der Zentralbanken de facto keine Rolle spielt. Der von mir eingangs gezeigte Verlauf der Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nicht nur, aber eben auch, eine Folge dieser politischen Entwicklung.
Es ist zwar von Vorteil, wenn die Zentralbank jederzeit entscheidungsfähig ist und nicht durch politisches Durcheinander blockiert werden kann. Aber das entbindet sie nicht von der Pflicht zur demokratischen Legitimation. Im konkreten Fall der Eurozone müsste die EZB dem Europaparlament Rechenschaft schuldig sein und an dessen Weisungen gebunden werden.
Die Unschuld der Arbeitslosen
Es ist heutzutage modisch, Arbeitslosen zu erklären, sie hätten an ihrer Lage selbst Schuld. Schließlich sei jeder seines Glückes - oder eben Pechs - Schmied, und wenn sich die Arbeitslosen nur etwas mehr anstrengen würden, würden sie auch Arbeit finden.
Das steht im krassen Gegensatz zur ökonomischen Lehre der Zentralbanker, nach der Arbeitslosigkeit notwendig ist um Preisstabilität zu ermöglichen.
Faszinierenderweise gibt es trotzdem Menschen, die beide Positionen gleichzeitig vertreten. Einerseits solle die Zentralbank für Preisstabilität sorgen, indem sie einen zu kräftigen Aufschwung verhindert und dadurch die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert, andererseits seien die Arbeitslosen für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Das ist an Doppelzüngigkeit kaum zu überbieten.
Wenn Arbeitslosigkeit als Werkzeug zum Erreichen von Preisstabilität eingesetzt wird, dann muss man die Arbeitslosen, denen damit ein Opfer abgefordert wird, auch entsprechend würdigen. Das sollte für jeden, der auch nur ein Fünkchen Anstand in sich trägt, selbstverständlich sein. Aber an dieser Stelle versagt unsere Politik vollständig.
Ist Arbeitslosigkeit wirklich notwendig?
Damit kommen wir zu der Frage, was denn nun wirklich dran ist an dem Konflikt zwischen Preisstabilität und Vollbeschäftigung. Kernpunkt ist die Phillips-Kurve, eine ursprünglich rein empirische Beobachtung eines inversen Zusammenhangs zwischen Arbeitslosenquote und Lohnsteigerungen, bzw. später allgemeinen Preissteigerungen. Je höher die Arbeitslosenquote, desto geringer waren die beobachteten Preissteigerungen, und umgekehrt.
Daraus schließen die meisten Ökonomen, dass der besagte Konflikt existiert und nicht aus der Welt geschaffen werden kann. Natürlich untermauern sie diese Schlussfolgerung mit Stapeln aus formelgefülltem Papier und komplizierten Theorien, getreu dem Motto, dass derjenige, der am wenigsten zu sagen hat oft am meisten redet, aber sie begehen dabei einen sehr einfachen methodischen Fehler, der ihr Gedankengebäude wie ein Kartenhaus einstürzen lässt.
Sie nehmen nämlich an, dass bestimmte wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen nicht verändert werden können.
Tatsächlich hat man angesichts einer empirischen Beobachtung wie der Phillips-Kurve zwei Möglichkeiten. Entweder, man baut darauf Gedankengebäude auf, um die Anhebung der Arbeitslosenquote (oder der Inflation) zu rechtfertigen und das Gewissen der Zentralbanker zu entlasten. Oder man macht sich Gedanken darüber, ob man die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen so verändern kann, dass Vollbeschäftigung und Preisstabilität gleichzeitig erreicht werden. Dass die meisten Ökonomen die erste Möglichkeit wählen, zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild der Profession.
Es gibt aber vereinzelte Ökonomen, die den zweiten Weg gehen. Dazu gehört der Australier Bill Mitchell, auf dessen Blog ich bereits des öfteren gelinkt habe, sowie der Amerikaner Randall Wray, dessen Buch "Understanding Modern Money" ich sehr empfehlen kann. Sie haben einen ganz konkreten Vorschlag: ein Regierungsprogramm, das unbegrenzt Arbeitsplätze bereitstellt, die den gesellschaftspolitischen Zielen und damit dem Wohl der Gesellschaft dienen.
Die Abschaffung der Massenarbeitslosigkeit
Ich werde diesem Programm, das wahlweise "Job Guarantee" (JG), "Employer of Last Resort" (ELR) oder "Basic Public Sector Work" (BPSW) genannt wird, sicher in Zukunft noch einen eigenen Eintrag widmen. Hier will ich nur kurz umreißen, wie es konkret in der Eurozone aussehen könnte. Unter diesem Programm, das mit den jeweiligen staatlichen Sozialprogrammen koexistiert, bieten die Regierungen der Eurozone jedem, der eine Arbeit möchte, eine Arbeit zu einem europaweit festgelegten Mindestlohn an.
Konkret werden auf europäischer Ebene Richtlinien ausgearbeitet, die die "ELR-Jobs" erfüllen müssen. Alle Kommunal- und Landesregierungen der Eurozone, aber auch gemeinnützige Einrichtungen, können ELR-Jobangebote gemäß dieser Richtlinien anmelden und ausschreiben. Die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit orientiert sich an den öffentlichen Aufgaben der Staaten, typisch sind z.B. Jobs in den Bereichen Pflege, Bau und Instandhaltung von Infrastruktur, etc.
Finanziert werden die Stellen zu 100% von der Europäischen Zentralbank bzw. einem noch zu schaffenden Euro-Finanz- und Arbeitsministerium. Zur Finanzierung des Programms sind weder Steuereinnahmen noch zusätzliche Staatsverschuldung notwendig, es wäre also insbesondere mit den Maastricht-Kriterien jederzeit kompatibel (so dumm diese auch sind). Wem das merkwürdig vorkommt, dem lege ich die Lektüre meiner früheren Einträge zum Thema Modern Monetary Theory nahe, insbesondere den zum Thema Staatsschulden.
Neben den ganz offensichtlichen Vorteilen dieses Programms (positive soziale Auswirkungen, geringere Kriminalität, bessere Versorgung sozialer Einrichtungen, Instandhaltung und Ausbau von Infrastruktur, etc.) gibt es signifikante volkswirtschaftliche Vorteile. So wirkt das ELR-Programm als Puffer für Beschäftigung und als antizyklischer Stabilisator. Es löst in Krisenzeiten fiskalische Impulse aus, ohne dass es Ärger mit dem Stabilitätspakt gibt.
Zudem geht von dem Programm eine preisstabilisierende Wirkung aus. Klassische Konjunkturprogramme tragen oft eine gewisse Inflationsgefahr in sich, weil der Staat dabei de facto am oberen Rand des Preis- und Lohnspektrum einkauft und so ein Preissog nach oben entstehen kann. Die Phillips-Kurve wird typischerweise über einen ähnlichen Effekt erklärt: Bei niedriger Arbeitslosigkeit können Arbeitnehmer höhere Gehälter einfordern. Wenn es Produzenten dann gelingt, die zusätzlichen Kosten auf die Preise weiterzugeben - weil entweder nicht genug Wettbewerb stattfindet oder keine Profite mehr erwirtschaftet werden - dann kann eine Preissteigerungsspirale entstehen.
Das vorgeschlagene ELR-Programm schiebt dem ein Riegel vor, da der Lohn der ELR-Jobs vom Gesetzgeber - konkret also vom Europaparlament - festgeschrieben ist. ELR kauft also Arbeit am unteren Rand des Lohnspektrums ein und agiert dadurch als Preisanker.
... und noch eine Anmerkung zum Schluss
Zugegebenermaßen habe ich in diesem Eintrag einiges vereinfacht dargestellt. Die VWL hat sich seit den Beobachtungen von Phillips weiterentwickelt, wenn auch in eine äußerst merkwürdige Richtung. Anstatt sich zu überlegen, wie Preisstabilität und Vollbeschäftigung in Einklang gebracht werden kann, hat sie große Mengen an Theorien hervorgebracht, mit deren Hilfe das destruktive Verhalten der Zentralbanken den Anschein der Legitimation erhält.
Dummerweise ignorieren diese Theorien die Erkenntnisse von Behavioural Economics weitgehend. Sie unterstellen den Menschen ein Verhalten, das so in der Realität einfach nicht zu finden ist. Ein schönes Beispiel dafür ist die Ricardian Equivalence, die unter anderem vorhersagt, dass jemand, der vom Staat einen Steuererlass bekommt, das ihm zusätzlich zur Verfügung stehende Geld unter keinen Umständen ausgeben wird. Das ist natürlich offensichtlicher Quatsch, aber trotzdem hängen ihm einige Ökonomen an.
Und selbst die, die Unfug wie die Ricardian Equivalence nicht 1:1 unterschreiben würden, kommen nicht unbedingt mit sich ins Reine. Stattdessen konstruieren sie noch kompliziertere Gedankengebäude, in denen die unsinnigen Annahmen noch besser versteckt sind, und für deren Widerlegung noch mehr ausschweifender Text nötig ist. Und auf dieses argumentative Wettrüsten lasse ich mich nicht ein, getreu dem alten Spruch: Never argue with a fool, for they will pull you down to their level and beat you with their experience.
Lerne, wie die Welt wirklich ist, aber vergiss niemals, wie sie sein sollte.
Sonntag, Dezember 12, 2010
Montag, Oktober 18, 2010
Spiel mir das Lied von der Inflation
Letzten Monat habe ich über Modern Monetary Theory geschrieben. Für diejenigen, die etwas spät dran sind sei auch noch einmal auf das Buch 7 Deadly Innocent Frauds von Warren Mosler, und auf billy blog von Bill Mitchell hingewiesen.
Eine der zentralen Erkenntnisse von Modern Monetary Theory ist, dass das Haushaltsdefizit der Regierung zwangsläufig 1:1 der Zunahme der Nettosparvermögen des privaten Sektors entspricht - solange man von einem abgeschlossenen System oder einem ausgewogenen Außenhandel ausgeht (Nachtrag: bei einem unausgewogenen Außenhandel verschiebt sich das Verhältnis entsprechend der Außenhandelsbilanz, abgesehen davon ändert sich nichts). Mit anderen Worten: die privaten Haushalte können Sparvermögen netto nur dann aufbauen, wenn die Regierung ein Haushaltsdefizit fährt.
Dieses Resultat folgt zwangsläufig aus einer Betrachtung der Volkswirtschaft als Flussnetzwerk und der Berücksichtigung, dass für private Haushalte Flusserhaltung gilt: alles Geld, das ein privater Haushalt einnimmt, wird zwangsläufig entweder ausgegeben oder gespart, und alles Geld, das ausgegeben wird, stammt entweder aus einer Einnahme oder aus der Auflösung von Sparvermögen bzw. aus Verschuldung. Eine ausführlichere Erklärung, wie man aus dieser Art von Beobachtung die sogenannten Sectoral Balances herleiten kann, findet sich hier: Norway and sectoral balances
Solange die privaten Haushalte netto in der betrachteten Währung sparen wollen, sollte die Regierung also ein entsprechendes Haushaltsdefizit fahren, weil ansonsten die Wirtschaft abgewürgt wird und Arbeitslosigkeit entsteht. Wollen die privaten Haushalte umgekehrt netto ihre Sparvermögen abbauen, so sollte die Regierung einen entsprechenden Haushaltsüberschuss fahren, weil ansonsten erhöhte Inflation oder Asset Bubbles entstehen.
Es gibt also zu jeder gegebenen Zeit eine "richtige" Höhe des Haushaltsdefizit aus wirtschaftlicher Perspektive. Ab und zu kann diese richtige Höhe durchaus auch bei null liegen, aber das wäre wohl eher ein zufälliges Ereignis. Da der private Sektor typischerweise netto Sparvermögen aufbauen will ist damit zu rechnen, dass die Höhe des "richtigen" Haushaltsdefizits langfristig positiv ist. Der Staat sollte dann ein entsprechendes langfristiges Defizit fahren.
Ein typischer Einwand dagegen ist die Behauptung, dass eine Regierung ein Defizit nicht beliebig lange fahren könne, weil sie dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geriete. Dieser Einwand ist für nicht-souveräne Staaten wie Deutschland, Frankreich und Griechenland richtig, und er gilt auch für Landes- und Kommunalregierungen. Für souveräne Staaten wie z.B. die USA, Großbritannien, Island, die Schweiz oder Japan ist dieser Einwand falsch, wie ich in einem früheren Eintrag erklärt habe.
Aus deutscher Perspektive ist die richtige Schlussfolgerung, die politisch daraus gezogen werden sollte, dass entweder Deutschland seine Souveränität wiederherstellen sollte, oder auf Ebene der Euro-Zone eine souveräne Regierung geschaffen werden sollte. (Ich persönlich bevorzuge aus politischen Erwägungen heraus Letzteres, aber beide Varianten sind aus rein volkswirtschaftlicher Sicht sinnvoll.)
Heute will ich mich einem anderen typischen Einwand widmen: mit schöner Regelmäßigkeit wird behauptet, die laufenden Defizite würden zwangsläufig zu Inflation führen. Das ist ein Irrglauben. Um ihn vernünftig zu entwirren stelle ich mir heute die Fragen, was Inflation überhaupt ist, ob sie schlimm ist, und wodurch sie entsteht. Außerdem will ich darauf eingehen, woher der Irrglaube kommt.
Was ist Inflation?
Inflation (Vorsicht: die Wikipedia hat leider einen neo-klassischen Bias) ist die Preissteigerung eines fest definierten Warenkorbs. Kostet der Warenkorb in einem Jahr 1000# und im nächsten Jahr 1035#, so beträgt die Inflation 3,5%.
Darüber, wie der Warenkorb zusammengesetzt sein soll, kann man natürlich streiten. Da Preissteigerungen nur im aller seltensten Fall alle Güter gleichmäßig betreffen, kann man dies in statistischen Tricksereien ausnutzen um den Eindruck einer höheren oder niedrigeren Inflation zu erzeugen. Ein schönes Beispiel dafür ist die außerordentliche Preisstabilität von Schokolade in Deutschland. Wäre der Warenkorb nur mit Schokoladentafeln gefüllt gewesen, dann hätte es in Deutschland vom Zweiten Weltkrieg bis zur Einführung des Euro fast keine Inflation geben.
Natürlich wird der Warenkorb normalerweise einigermaßen sinnvoll definiert, so dass Inflation ein nützliches Maß für allgemeine Preissteigerungen ist.
Ist Inflation schlimm?
Der wichtigste Effekt von Inflation ist, dass sie ähnlich wirkt wie negative Zinsen auf Sparvermögen. Sie ist daher ein Anreiz, verdientes Geld wieder auszugeben, entweder für Konsum oder für Investitionen, die einen höheren Gewinn versprechen. Das ist sinnvoll. Auf der anderen Seite ist es auch sinnvoll, die Menschen zum Sparen zu ermutigen, so dass sie sich ab und zu mit ihren Ersparnissen etwas Größeres leisten können. Zwischen diesen beiden Überlegungen muss eine Balance gefunden werden, die durchaus auch von den politischen Zielen der Regierung abhängt.
Ein weiterer Effekt von Inflation ist die Verbesserung der Preisfindung an Märkten. Menschen mögen große Zahlen, weshalb sie davor zurückschrecken, Preise nominell zu senken - auch wenn dies aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll wäre. Eine gemäßigte Inflation kann diesen Effekt ausgleichen, da sie dafür sorgt, dass reale Preise sinken, solange es keine nominelle Preissteigerung gibt.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass eine gemäßigte Inflation erstrebenswert ist.
Genauso klar ist aber auch, dass sowohl eine zu niedrige Inflation (oder gar Deflation) als auch eine zu hohe Inflation schädlich ist.
Wodurch entsteht Inflation?
Wie wir oben gesehen haben muss die Frage eigentlich lauten: Wodurch entstehen Preissteigerungen? Dafür können verschiedene Ursachen gefunden werden, zum Beispiel kann ein Preisanstieg von grundlegenden Rohstoffen auf den Preis des Endprodukts durchgereicht werden. Für die Diskussion hier ist ein anderer Faktor wichtiger, nämlich die Nachfrage.
Die naive Betrachtungsweise ist, dass eine erhöhte Nachfrage nach einem Produkt zu einer Preissteigerung führt. Aber Moment: wenn ich als Produzent einer Ware die erhöhte Nachfrage sehe und dementsprechend meinen Preis steigere, so riskiere ich damit, Marktanteile an die Konkurrenz zu verlieren. Ich sollte also besser erst einmal meine Produktion steigern, vor allem wenn wegen einer Rezession Produktionskapazitäten brachliegen. Erst wenn die Produktion nicht mehr ohne langfristige Investitionen weiter gesteigert werden kann ist eine Preissteigerung zwangsläufig die logische Reaktion.
In der Realität wird die Wirtschaft auf eine Steigerung der Nachfrage also mit einer Mischung aus Preissteigerung und Produktionssteigerung reagieren. In den meisten (aber natürlich nicht allen) Fällen überwiegt dabei zunächst letzteres. Erst wenn die Produktionsfaktoren an ihre Grenze stoßen, z.B. wegen einem Mangel an Rohstoffen, Arbeitskräften oder Produktionsanlagen, wird eine Preissteigerung durch den Markt unabwendbar.
Damit kommen wir zu der natürlichen Frage ob eine Regierung, die langfristig Haushaltsdefizite fährt, dadurch eine überhöhte Inflation riskiert. Die Antwort darauf ist ebenso natürlich: es kommt darauf an, ob durch das Verhalten der Regierung die Nachfrage über die Produktionskapazität der Wirtschaft gehoben wird.
Die Vertreter von Modern Monetary Theory empfehlen, dass die Regierung ihren Haushalt an das Verhalten des privaten Sektors anpasst, und zwar so, dass durch die Nachfrage insgesamt die Kapazität der Wirtschaft voll ausgelastet ist, aber eben auch nicht mehr. Solange die Regierung dazu in der Lage ist, besteht das Risiko einer überhöhten Inflation also nicht (jedenfalls nicht als Folge des Staatshaushalts; überhöhte Inflation wegen Rohstoffknappheit etc. ist natürlich nie ausgeschlossen).
Es sollte betont werden: Vertreter von MMT sagen nicht, dass die Regierung in jedem Fall ständig ein Haushaltsdefizit fahren soll. Ob ein Defizit oder ein Überschuss angemessen ist hängt vom Verhalten des privaten Sektors ab. Was Vertreter von MMT sagen ist folgendes: wenn sich die Regierung vernünftig verhält, und sich das Verhalten des privaten Sektors nicht wesentlich gegenüber dem, was wir heutzutage beobachten, verändert, dann wird die Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach langfristig ein Defizit fahren - und dieses Defizit ist für eine souveräne Regierung vollkommen unproblematisch.
Was geschieht, wenn der private Sektor sein Verhalten ändert?
Zum Beispiel könnte es sein, dass der private Sektor seine Sparquote senkt und dadurch die Nachfrage erhöht. Dann ist der Ratschlag von Modern Monetary Theory, dass die Regierung ihr Defizit senken bzw. einen Überschuss anstreben sollte. Dies kann sie entweder durch Senkung der Ausgaben oder durch Erhöhung der Steuern erreichen.
Welche dieser beiden Maßnahmen ergriffen werden sollte, bzw. in welcher Mischung, hängt dabei lediglich von den politischen Zielen der Regierung ab. Teilweise geschieht die Anpassung des Haushalts von alleine durch automatische Stabilisatoren, idealerweise durch eine Job Guarantee - über die ich ich hier ein andermal schreiben werde.
Wenn die automatischen Stabilisatoren nicht ausreichen, kann die Regierung weitere Ausgaben senken. Aber irgendwann wird das nicht mehr möglich sein, weil zumindest die Grundfunktionen des Staates gewährleistet werden müssen. Spätestens dann muss die Regierung entweder die Steuern anheben, und dem privaten Sektor dadurch nominale Kaufkraft wegnehmen, oder sie muss eine erhöhte Inflation in Kauf nehmen.
Aha! wird jetzt vielleicht manch einer sagen. Also führen die Defizite ja doch zur Inflation oder müssen irgendwann ausgeglichen werden. Wenn der private Sektor sein Verhalten ändert, dann vielleicht ja - je nachdem, wie flexibel die Produktionskapazität der Wirtschaft ist.
Denn der zentrale Punkt ist folgender: in jedem Zeitraum können die Menschen höchstens so viel kaufen, wie die Wirtschaft auch in der Lage ist, real zu produzieren. Wer ein Sparvermögen anlegt erhofft sich dabei, in der Zukunft mit diesem Sparvermögen reale Güter oder Dienstleistungen kaufen zu können. Wenn die Wirtschaft in der Zukunft dann nicht leistungsfähig genug ist, um die erhofften realen Dinge auch produzieren zu können, dann hat man Pech gehabt.
Diese einfache Beobachtung gilt immer und hat nichts mit dem Haushaltsdefizit zu tun. Ein langfristiges Haushaltsdefizit ermöglicht es dem privaten Sektor lediglich, die Sparvermögen aufzubauen, von denen sich später womöglich herausstellen könnte, dass sie nicht so viel wert sind wie sich die Sparer erhofft haben. Ob sich der reale Wert der Sparvermögen so entwickelt wie erhofft hängt aber - wie die Diskussion oben zeigt - ganz wesentlich davon ab, ob die Produktionskapazitäten der Wirtschaft in Zukunft ausreichen werden, um steigende Nachfrage zu absorbieren.
Was Modern Monetary Theory nun sagt ist, dass die Regierung dafür sorgen sollte, dass die Produktionskapazitäten der Wirtschaft möglichst weitgehend ausgelastet sind, einerseits um der Bevölkerung einen hohen Lebensstandard in der Gegenwart zu ermöglichen, anderseits aber auch in der durchaus berechtigten Hoffnung, dass sich die Produktionskapazitäten dadurch langfristig vergrößern, was den zukünftigen Wert der angelegten Sparvermögen garantiert und den realen Lebensstandard der Bevölkerung weiter verbessert.
(Kleine ökologische Nebenbemerkung: aus volkswirtschaftlicher Sicht bedeutet eine Vergrößerung der Produktionskapazitäten nicht unbedingt ein höheres Materialvolumen, sondern kann sich auch in einer qualitativen Verbesserung der Produkte und Dienstleistungen äußern. Eine ökologisch denkende Regierung sollte versuchen, durch gezielte Impulse das Wirtschaftswachstum in diesem qualitativen Sinn zu lenken.)
Die klassischen Einwände gegen eine Regierung, die ihren Haushalt zur Auslastung der Wirtschaft einsetzt, sind also unbegründet.
Trotzdem muss man natürlich anerkennen, dass die Sparvermögen, die durch die langfristigen Defizite ermöglicht werden, aus anderweitigen Gründen politisch ungewollt sein können. Wenn die Vergrößerung der Sparvermögen einhergeht mit einer wachsenden Ungleichverteilung zwischen Armen und Reichen, dann ist dies eine ganz konkrete Gefahr für eine Demokratie. Zudem können wachsende Sparvermögen vielleicht einen durchgeknallten Finanzsektor fördern, der wiederum mit Risiken verbunden ist. Aus solchen Gründen ist es sinnvoll, über gezielte Maßnahmen zur Begrenzung von hohen Sparvermögen - wie zum Beispiel eine progressive Vermögenssteuer - nachzudenken. Aber das ist ein anderes Thema, über das ich vielleicht ein andermal schreiben werde.
Der Goldstandard und das Wort "Inflation"
Wenn ein langfristiges Staatsdefizit also für einen souveränen Staat so unproblematisch ist, woher kommt dann die allgemeine Furcht davor? Zum einen ist es wichtig zu verstehen, dass es mächtige Interessen gibt, die von dieser Furcht profitieren. Aber auch darüber hinaus gibt es doch Argumente, die für diese Furcht sprechen - oder? Es ist wichtig zu verstehen, warum diese "Argumente" falsch sind, also will ich auf einige davon eingehen.
Früher, in grauer Vorzeit, waren Währungen an einen Goldstandard gekoppelt. Das bedeutet, dass die Regierungen versprachen, Geld gegen Gold zu einem festen Preis umzutauschen. Das Geld hatte also einen intrinsischen Wert, nämlich den Wert der entsprechenden Goldmenge.
In diesem festen Rahmen ist es der Regierung nur dann möglich, ein langfristiges Defizit zu fahren, wenn sie dieses durch den Verkauf von Schuldpapieren finanzieren kann. Wenn sie trotzdem mehr Geld ausgeben will ohne dies durch Schuldpapiere auszugleichen, muss sie entweder die Deckung des Geldes durch Gold reduzieren. Darunter versteht man, dass die Regierung nur einen Bruchteil des insgesamt im Umlauf befindlichen Geldes zu Gold tauschen kann. Die USA haben z.B. lange Zeit mit einer Deckung von 40% operiert und sind dadurch das Risiko eingegangen, womöglich irgendwann nicht mehr genug Gold in Reserve zu haben, wenn ein Run auf Gold entstanden wäre.
Oder die Regierung verändert den Umtauschfaktor von Geld zu Gold. Dadurch verringert sich der intrinsische Wert des Geldes und man spricht von "Aufblähung" der Geldmenge, weil die Regierung nun netto mehr Geld ausgeben kann, ohne die Deckung zu reduzieren. Das lateinische Wort für "Aufblähung" ist "Inflation".
Aber Moment! Entsteht dadurch denn tatsächlich erhöhte Inflation in unserem heutigen Sinne? Heutzutage versteht man unter Inflation eine Preissteigerung, und in diesem Szenario steigt natürlich per Definition der Preis von Gold, so viel ist klar. Aber steigen auch die anderen Preise? Insbesondere stellt sich die Frage: steigt der Preis des Warenkorbs, über den Inflation definiert wird?
Definieren wir also ein erstes Szenario: ein abgeschlossenes Goldstandard-System ohne Außenhandel, in dem die Regierung den Goldpreis erhöht, jedoch zunächst ohne das Haushaltsdefizit zu verändern.
Weiter oben haben wir uns überlegt, wodurch eine Preissteigerung entstehen kann: einerseits durch höhere Rohstoffpreise. Gold wird aber außer in Schmuck nur in eher geringen Mengen eingesetzt, von daher wird dieser Effekt auf die Inflation gering ausfallen. Andererseits kann Inflation potentiell durch erhöhte Nachfrage entstehen. Solange die Regierung ihr Haushaltsdefizit nicht ändert, wird sich aber auch die Nachfrage nicht ändern - bis auf denkbar minimale Effekte durch Menschen, die im Goldbesitz sind und dieses verkaufen, um sich dafür andere Dinge zu leisten. In diesem ersten Szenario ist also keine erhöhte Inflation zu erwarten, obwohl die Regierung den "Wert des Geldes" senkt.
Sobald die Regierung den niedrigeren Geldwert ausnutzt um ihr Haushaltsdefizit zu erhöhen, wird Inflation durch steigende Nachfrage möglich, aber auch da gilt wieder die Überlegung, dass die Wirtschaft die steigende Nachfrage zunächst durch Produktionssteigerungen ausgleichen kann.
Die Annahme eines abgeschlossenen Systems ist natürlich unrealistisch. In Wirklichkeit führt die Änderung des Goldpreises durch die Regierung zu einer Anpassung der Wechselkurse. Dadurch werden Importe teurer und die Nachfrage steigt in Form steigender Exporte. Beide Effekte tendieren zu einer erhöhten Inflation. Wie stark diese ausfällt hängt davon ab, wie groß der Einfluss des Außenhandels auf die Wirtschaft ist.
Soweit die Überlegungen zu einem Goldstandard-System: Inflation entsteht auch in einem Goldstandard-System nur so weit durch den reduzierten "Wert des Geldes", wie sich dieser auf den Außenhandel auswirkt. Jeder weitere signifikante Inflations-Effekt entsteht nicht durch den reduzierten "Wert des Geldes", sondern durch einen Anstieg von Nachfrage relativ zu den Produktionskapazitäten der realen Wirtschaft, wie ich ihn bereits besprochen habe.
Wie sieht es nun in einem Fiat-Geldsystem mit souveräner Regierung aus? Hier hat Geld keinen intrinsischen Wert. Von einem reduzierten "Wert des Geldes" zu sprechen ist also vollkommen unsinnig. Die naive Denke von "mehr Geld = mehr Inflation", die sich auch aus der Sprache des Goldstandards ergibt, ist selbst im Goldstandard-System falsch. In einem Fiat-System bricht sie vollständig in sich zusammen.
Modern Monetary Theory bietet einen Rahmen, um Inflation in Bezug auf das Haushaltsdefizit in einem Fiat-Geldsystem zu untersuchen. Dort kommt man zum Schluss, dass ein Haushaltsdefizit nur dann zu Inflation führt, wenn es zu hoch ist. Wie hoch ist zu hoch? Kommt drauf an. Manchmal kann die Grenze durchaus bei null liegen, also bei einem ausgeglichenen Haushalt, aber das ist dann einfach Zufall.
Quantitätstheorie
Mainstream-Ökonomen argumentieren sehr gerne, dass eine höhere "Geldmenge" (egal welche von den vielen vollkommen verschiedenen Definitionen ihnen gerade ins Konzept passt) zu Inflation führen wird. Sie haben so auch die letzten zwei Jahre angesichts der Maßnahmen der Zentralbanken weltweit argumentiert, und kaum jemand scheint es ihnen übel zu nehmen, dass das Inflationsgeunke ganz offensichtlich vollkommen unbegründet war. Um dieses Gerede zu durchschauen muss man verstehen, dass sich dahinter die Quantitätstheorie versteckt.
Die Quantitätstheorie wird ungefähr so hergeleitet. Sei M die "Geldmenge", P das Preisniveau, und Q die Menge umgesetzter Güter pro Zeiteinheit. Dann kann man einen Proportionalitätsfaktor erfinden, um diese Größen in eine Gleichung zu pressen. Man nennt ihn V, die "Umlaufgeschwindigkeit des Geldes", und kommt so zu der Gleichung:
MV = PQ
Eigentlich ist schon hier klar, dass die Quantitätstheorie als Theorie wenig brauchbar ist, denn natürlich kann man beliebige Proportionalitätsfaktoren erfinden um Gleichungen hinzuschreiben, aber da V außerhalb des Gedankengebäudes der Quantitätstheorie bedeutungslos und nicht direkt messbar ist, ist diese Gleichung wenig erhellend.
Zugegeben, selbst in der Physik gibt es solche Proportionalitätsfaktoren. Lange Zeit war die Fallbeschleunigung auf der Erde ein solcher Faktor. Nur: erstens haben sich die Physiker damit nicht zufrieden gegeben. Inzwischen können sie diesen Faktor aus den Gravitationsgesetzen erklären, die zwar auch wieder mit der Gravitationskonstante einen beliebigen Faktor enthalten, aber besonders glücklich sind die Physiker darüber ja auch nicht. Zweitens sprechen die empirischen Befunde dafür, dass die verbleibenden Proportionalitätsfaktoren in der Physik universelle Konstanten sind.
Die "Umlaufgeschwindigkeit des Geldes" V ist aber alles andere konstant und variiert ziemlich wild. Spätestens mit dieser Erkenntnis sollte man die Quantitätstheorie vernünftigerweise als hoffnungslosen Fall aufgeben.
Aber Mainstream-Ökonomen machen trotzdem weiter. Sie behaupten einfach: V und Q sind konstant. Also verdoppeln sich mit einer Verdopplung der Geldmenge auch die Preise. Das ist aber einfach falsch, wie man praktisch überall an den empirischen Fakten sieht, hier zum Beispiel im Vergleich US CPI vs. Geldmenge.
Die typische Ausrede ist dann, dass man sich die falsche Definition von Geldmenge ansieht, auch wenn es in Wirklichkeit einfach keine Definition von Geldmenge gibt, mit der die Vorhersage richtig wird. Vermutlich stammt die große Zahl von Geldmenge-Definitionen auch aus diesen erfolglosen Versuchen, die Quantitätstheorie zu reparieren. Offenbar gibt es hier einige Gläubige, die einfach ihre Definition von Gott verändern, sobald man ein rationales Argument dargelegt hat, das zeigt, wie unplausibel die Existenz Gottes ist.
Andere erklären dann, die Quantitätstheorie sei trotzdem richtig, weil V und Q nicht unbedingt konstant sind - und widersprechen damit genau dem, was sie erst fünf Minuten vorher selbst behauptet haben.
Aber nein, reden sie sich heraus, so haben sie das ja gar nicht gemeint. V und Q seien nur langfristig konstant, behaupten sie dann, ungeachtet dessen, dass V und Q über praktisch alle bisher betrachteten Zeiträume nicht konstant sind. Praktischerweise legen sich diese Ökonomen auch nicht darauf fest, wie groß die Zeiträume denn sind, die sie mit "langfristig" meinen.
Auf diese Art, "Wissenschaft" zu betreiben, könnten wir nun wirklich verzichten.
Und das Fazit?
Um Inflation ranken sich jede Menge Legenden, viele aus der längst vergangenen Zeit des Goldstandards, die meisten von ihnen gar frei erfunden. Nüchtern betrachtet ist ein geringes Maß an Inflation sinnvoll, und sowohl zu geringe als auch zu hohe Inflation schädlich.
Eine souveräne Regierung kann die Ziele moderate Inflation und (nahezu) volle Auslastung der Wirtschaft, inklusive echter Vollbeschäftigung (definiert als weniger als 2% Arbeitslosigkeit bei null Unterbeschäftigung) problemlos erreichen, wenn sie sich die Erkenntnisse von Modern Monetary Theory zunutze macht.
Dabei ist nicht auszuschließen, dass sich angelegte Sparvermögen in manchen Situationen als real weniger wertvoll als erhofft herausstellen. Diese Möglichkeit besteht aber immer, und mit den Erkenntnissen von Modern Monetary Theory kann eine Regierung auf reale volkswirtschaftliche Resultate zielen, die in jedem Fall mindestens so gut wie, und in vielen Fällen besser als die Resultate der klassischen, pro-zyklischen Sparkurs-Politik sind, auf die die heutige Diskussion in fast allen Staaten weltweit hinausläuft.
Coda
Unfug wie die Quantitätstheorie hält sich auch deshalb so hartnäckig, weil es der menschlichen Natur widerstrebt, eine einmal widerlegte Theorie kategorisch abzulehnen. Lieber gehen Menschen dazu über, dass ja vielleicht doch "ein klein bißchen Wahrheit" daran sein könnte.
Dazu möchte ich den großartigen Douglas Adams zitieren, der diese Denkweise wie folgt parodiert hat:
Ihm ging es dabei um die Kreationismusdebatte, aber ich habe diese Art von Reaktion auch in Diskussionen über Volkswirtschaft schon oft genug beobachtet.
Eine der zentralen Erkenntnisse von Modern Monetary Theory ist, dass das Haushaltsdefizit der Regierung zwangsläufig 1:1 der Zunahme der Nettosparvermögen des privaten Sektors entspricht - solange man von einem abgeschlossenen System oder einem ausgewogenen Außenhandel ausgeht (Nachtrag: bei einem unausgewogenen Außenhandel verschiebt sich das Verhältnis entsprechend der Außenhandelsbilanz, abgesehen davon ändert sich nichts). Mit anderen Worten: die privaten Haushalte können Sparvermögen netto nur dann aufbauen, wenn die Regierung ein Haushaltsdefizit fährt.
Dieses Resultat folgt zwangsläufig aus einer Betrachtung der Volkswirtschaft als Flussnetzwerk und der Berücksichtigung, dass für private Haushalte Flusserhaltung gilt: alles Geld, das ein privater Haushalt einnimmt, wird zwangsläufig entweder ausgegeben oder gespart, und alles Geld, das ausgegeben wird, stammt entweder aus einer Einnahme oder aus der Auflösung von Sparvermögen bzw. aus Verschuldung. Eine ausführlichere Erklärung, wie man aus dieser Art von Beobachtung die sogenannten Sectoral Balances herleiten kann, findet sich hier: Norway and sectoral balances
Solange die privaten Haushalte netto in der betrachteten Währung sparen wollen, sollte die Regierung also ein entsprechendes Haushaltsdefizit fahren, weil ansonsten die Wirtschaft abgewürgt wird und Arbeitslosigkeit entsteht. Wollen die privaten Haushalte umgekehrt netto ihre Sparvermögen abbauen, so sollte die Regierung einen entsprechenden Haushaltsüberschuss fahren, weil ansonsten erhöhte Inflation oder Asset Bubbles entstehen.
Es gibt also zu jeder gegebenen Zeit eine "richtige" Höhe des Haushaltsdefizit aus wirtschaftlicher Perspektive. Ab und zu kann diese richtige Höhe durchaus auch bei null liegen, aber das wäre wohl eher ein zufälliges Ereignis. Da der private Sektor typischerweise netto Sparvermögen aufbauen will ist damit zu rechnen, dass die Höhe des "richtigen" Haushaltsdefizits langfristig positiv ist. Der Staat sollte dann ein entsprechendes langfristiges Defizit fahren.
Ein typischer Einwand dagegen ist die Behauptung, dass eine Regierung ein Defizit nicht beliebig lange fahren könne, weil sie dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geriete. Dieser Einwand ist für nicht-souveräne Staaten wie Deutschland, Frankreich und Griechenland richtig, und er gilt auch für Landes- und Kommunalregierungen. Für souveräne Staaten wie z.B. die USA, Großbritannien, Island, die Schweiz oder Japan ist dieser Einwand falsch, wie ich in einem früheren Eintrag erklärt habe.
Aus deutscher Perspektive ist die richtige Schlussfolgerung, die politisch daraus gezogen werden sollte, dass entweder Deutschland seine Souveränität wiederherstellen sollte, oder auf Ebene der Euro-Zone eine souveräne Regierung geschaffen werden sollte. (Ich persönlich bevorzuge aus politischen Erwägungen heraus Letzteres, aber beide Varianten sind aus rein volkswirtschaftlicher Sicht sinnvoll.)
Heute will ich mich einem anderen typischen Einwand widmen: mit schöner Regelmäßigkeit wird behauptet, die laufenden Defizite würden zwangsläufig zu Inflation führen. Das ist ein Irrglauben. Um ihn vernünftig zu entwirren stelle ich mir heute die Fragen, was Inflation überhaupt ist, ob sie schlimm ist, und wodurch sie entsteht. Außerdem will ich darauf eingehen, woher der Irrglaube kommt.
Was ist Inflation?
Inflation (Vorsicht: die Wikipedia hat leider einen neo-klassischen Bias) ist die Preissteigerung eines fest definierten Warenkorbs. Kostet der Warenkorb in einem Jahr 1000# und im nächsten Jahr 1035#, so beträgt die Inflation 3,5%.
Darüber, wie der Warenkorb zusammengesetzt sein soll, kann man natürlich streiten. Da Preissteigerungen nur im aller seltensten Fall alle Güter gleichmäßig betreffen, kann man dies in statistischen Tricksereien ausnutzen um den Eindruck einer höheren oder niedrigeren Inflation zu erzeugen. Ein schönes Beispiel dafür ist die außerordentliche Preisstabilität von Schokolade in Deutschland. Wäre der Warenkorb nur mit Schokoladentafeln gefüllt gewesen, dann hätte es in Deutschland vom Zweiten Weltkrieg bis zur Einführung des Euro fast keine Inflation geben.
Natürlich wird der Warenkorb normalerweise einigermaßen sinnvoll definiert, so dass Inflation ein nützliches Maß für allgemeine Preissteigerungen ist.
Ist Inflation schlimm?
Der wichtigste Effekt von Inflation ist, dass sie ähnlich wirkt wie negative Zinsen auf Sparvermögen. Sie ist daher ein Anreiz, verdientes Geld wieder auszugeben, entweder für Konsum oder für Investitionen, die einen höheren Gewinn versprechen. Das ist sinnvoll. Auf der anderen Seite ist es auch sinnvoll, die Menschen zum Sparen zu ermutigen, so dass sie sich ab und zu mit ihren Ersparnissen etwas Größeres leisten können. Zwischen diesen beiden Überlegungen muss eine Balance gefunden werden, die durchaus auch von den politischen Zielen der Regierung abhängt.
Ein weiterer Effekt von Inflation ist die Verbesserung der Preisfindung an Märkten. Menschen mögen große Zahlen, weshalb sie davor zurückschrecken, Preise nominell zu senken - auch wenn dies aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll wäre. Eine gemäßigte Inflation kann diesen Effekt ausgleichen, da sie dafür sorgt, dass reale Preise sinken, solange es keine nominelle Preissteigerung gibt.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass eine gemäßigte Inflation erstrebenswert ist.
Genauso klar ist aber auch, dass sowohl eine zu niedrige Inflation (oder gar Deflation) als auch eine zu hohe Inflation schädlich ist.
Wodurch entsteht Inflation?
Wie wir oben gesehen haben muss die Frage eigentlich lauten: Wodurch entstehen Preissteigerungen? Dafür können verschiedene Ursachen gefunden werden, zum Beispiel kann ein Preisanstieg von grundlegenden Rohstoffen auf den Preis des Endprodukts durchgereicht werden. Für die Diskussion hier ist ein anderer Faktor wichtiger, nämlich die Nachfrage.
Die naive Betrachtungsweise ist, dass eine erhöhte Nachfrage nach einem Produkt zu einer Preissteigerung führt. Aber Moment: wenn ich als Produzent einer Ware die erhöhte Nachfrage sehe und dementsprechend meinen Preis steigere, so riskiere ich damit, Marktanteile an die Konkurrenz zu verlieren. Ich sollte also besser erst einmal meine Produktion steigern, vor allem wenn wegen einer Rezession Produktionskapazitäten brachliegen. Erst wenn die Produktion nicht mehr ohne langfristige Investitionen weiter gesteigert werden kann ist eine Preissteigerung zwangsläufig die logische Reaktion.
In der Realität wird die Wirtschaft auf eine Steigerung der Nachfrage also mit einer Mischung aus Preissteigerung und Produktionssteigerung reagieren. In den meisten (aber natürlich nicht allen) Fällen überwiegt dabei zunächst letzteres. Erst wenn die Produktionsfaktoren an ihre Grenze stoßen, z.B. wegen einem Mangel an Rohstoffen, Arbeitskräften oder Produktionsanlagen, wird eine Preissteigerung durch den Markt unabwendbar.
Damit kommen wir zu der natürlichen Frage ob eine Regierung, die langfristig Haushaltsdefizite fährt, dadurch eine überhöhte Inflation riskiert. Die Antwort darauf ist ebenso natürlich: es kommt darauf an, ob durch das Verhalten der Regierung die Nachfrage über die Produktionskapazität der Wirtschaft gehoben wird.
Die Vertreter von Modern Monetary Theory empfehlen, dass die Regierung ihren Haushalt an das Verhalten des privaten Sektors anpasst, und zwar so, dass durch die Nachfrage insgesamt die Kapazität der Wirtschaft voll ausgelastet ist, aber eben auch nicht mehr. Solange die Regierung dazu in der Lage ist, besteht das Risiko einer überhöhten Inflation also nicht (jedenfalls nicht als Folge des Staatshaushalts; überhöhte Inflation wegen Rohstoffknappheit etc. ist natürlich nie ausgeschlossen).
Es sollte betont werden: Vertreter von MMT sagen nicht, dass die Regierung in jedem Fall ständig ein Haushaltsdefizit fahren soll. Ob ein Defizit oder ein Überschuss angemessen ist hängt vom Verhalten des privaten Sektors ab. Was Vertreter von MMT sagen ist folgendes: wenn sich die Regierung vernünftig verhält, und sich das Verhalten des privaten Sektors nicht wesentlich gegenüber dem, was wir heutzutage beobachten, verändert, dann wird die Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach langfristig ein Defizit fahren - und dieses Defizit ist für eine souveräne Regierung vollkommen unproblematisch.
Was geschieht, wenn der private Sektor sein Verhalten ändert?
Zum Beispiel könnte es sein, dass der private Sektor seine Sparquote senkt und dadurch die Nachfrage erhöht. Dann ist der Ratschlag von Modern Monetary Theory, dass die Regierung ihr Defizit senken bzw. einen Überschuss anstreben sollte. Dies kann sie entweder durch Senkung der Ausgaben oder durch Erhöhung der Steuern erreichen.
Welche dieser beiden Maßnahmen ergriffen werden sollte, bzw. in welcher Mischung, hängt dabei lediglich von den politischen Zielen der Regierung ab. Teilweise geschieht die Anpassung des Haushalts von alleine durch automatische Stabilisatoren, idealerweise durch eine Job Guarantee - über die ich ich hier ein andermal schreiben werde.
Wenn die automatischen Stabilisatoren nicht ausreichen, kann die Regierung weitere Ausgaben senken. Aber irgendwann wird das nicht mehr möglich sein, weil zumindest die Grundfunktionen des Staates gewährleistet werden müssen. Spätestens dann muss die Regierung entweder die Steuern anheben, und dem privaten Sektor dadurch nominale Kaufkraft wegnehmen, oder sie muss eine erhöhte Inflation in Kauf nehmen.
Aha! wird jetzt vielleicht manch einer sagen. Also führen die Defizite ja doch zur Inflation oder müssen irgendwann ausgeglichen werden. Wenn der private Sektor sein Verhalten ändert, dann vielleicht ja - je nachdem, wie flexibel die Produktionskapazität der Wirtschaft ist.
Denn der zentrale Punkt ist folgender: in jedem Zeitraum können die Menschen höchstens so viel kaufen, wie die Wirtschaft auch in der Lage ist, real zu produzieren. Wer ein Sparvermögen anlegt erhofft sich dabei, in der Zukunft mit diesem Sparvermögen reale Güter oder Dienstleistungen kaufen zu können. Wenn die Wirtschaft in der Zukunft dann nicht leistungsfähig genug ist, um die erhofften realen Dinge auch produzieren zu können, dann hat man Pech gehabt.
Diese einfache Beobachtung gilt immer und hat nichts mit dem Haushaltsdefizit zu tun. Ein langfristiges Haushaltsdefizit ermöglicht es dem privaten Sektor lediglich, die Sparvermögen aufzubauen, von denen sich später womöglich herausstellen könnte, dass sie nicht so viel wert sind wie sich die Sparer erhofft haben. Ob sich der reale Wert der Sparvermögen so entwickelt wie erhofft hängt aber - wie die Diskussion oben zeigt - ganz wesentlich davon ab, ob die Produktionskapazitäten der Wirtschaft in Zukunft ausreichen werden, um steigende Nachfrage zu absorbieren.
Was Modern Monetary Theory nun sagt ist, dass die Regierung dafür sorgen sollte, dass die Produktionskapazitäten der Wirtschaft möglichst weitgehend ausgelastet sind, einerseits um der Bevölkerung einen hohen Lebensstandard in der Gegenwart zu ermöglichen, anderseits aber auch in der durchaus berechtigten Hoffnung, dass sich die Produktionskapazitäten dadurch langfristig vergrößern, was den zukünftigen Wert der angelegten Sparvermögen garantiert und den realen Lebensstandard der Bevölkerung weiter verbessert.
(Kleine ökologische Nebenbemerkung: aus volkswirtschaftlicher Sicht bedeutet eine Vergrößerung der Produktionskapazitäten nicht unbedingt ein höheres Materialvolumen, sondern kann sich auch in einer qualitativen Verbesserung der Produkte und Dienstleistungen äußern. Eine ökologisch denkende Regierung sollte versuchen, durch gezielte Impulse das Wirtschaftswachstum in diesem qualitativen Sinn zu lenken.)
Die klassischen Einwände gegen eine Regierung, die ihren Haushalt zur Auslastung der Wirtschaft einsetzt, sind also unbegründet.
Trotzdem muss man natürlich anerkennen, dass die Sparvermögen, die durch die langfristigen Defizite ermöglicht werden, aus anderweitigen Gründen politisch ungewollt sein können. Wenn die Vergrößerung der Sparvermögen einhergeht mit einer wachsenden Ungleichverteilung zwischen Armen und Reichen, dann ist dies eine ganz konkrete Gefahr für eine Demokratie. Zudem können wachsende Sparvermögen vielleicht einen durchgeknallten Finanzsektor fördern, der wiederum mit Risiken verbunden ist. Aus solchen Gründen ist es sinnvoll, über gezielte Maßnahmen zur Begrenzung von hohen Sparvermögen - wie zum Beispiel eine progressive Vermögenssteuer - nachzudenken. Aber das ist ein anderes Thema, über das ich vielleicht ein andermal schreiben werde.
Der Goldstandard und das Wort "Inflation"
Wenn ein langfristiges Staatsdefizit also für einen souveränen Staat so unproblematisch ist, woher kommt dann die allgemeine Furcht davor? Zum einen ist es wichtig zu verstehen, dass es mächtige Interessen gibt, die von dieser Furcht profitieren. Aber auch darüber hinaus gibt es doch Argumente, die für diese Furcht sprechen - oder? Es ist wichtig zu verstehen, warum diese "Argumente" falsch sind, also will ich auf einige davon eingehen.
Früher, in grauer Vorzeit, waren Währungen an einen Goldstandard gekoppelt. Das bedeutet, dass die Regierungen versprachen, Geld gegen Gold zu einem festen Preis umzutauschen. Das Geld hatte also einen intrinsischen Wert, nämlich den Wert der entsprechenden Goldmenge.
In diesem festen Rahmen ist es der Regierung nur dann möglich, ein langfristiges Defizit zu fahren, wenn sie dieses durch den Verkauf von Schuldpapieren finanzieren kann. Wenn sie trotzdem mehr Geld ausgeben will ohne dies durch Schuldpapiere auszugleichen, muss sie entweder die Deckung des Geldes durch Gold reduzieren. Darunter versteht man, dass die Regierung nur einen Bruchteil des insgesamt im Umlauf befindlichen Geldes zu Gold tauschen kann. Die USA haben z.B. lange Zeit mit einer Deckung von 40% operiert und sind dadurch das Risiko eingegangen, womöglich irgendwann nicht mehr genug Gold in Reserve zu haben, wenn ein Run auf Gold entstanden wäre.
Oder die Regierung verändert den Umtauschfaktor von Geld zu Gold. Dadurch verringert sich der intrinsische Wert des Geldes und man spricht von "Aufblähung" der Geldmenge, weil die Regierung nun netto mehr Geld ausgeben kann, ohne die Deckung zu reduzieren. Das lateinische Wort für "Aufblähung" ist "Inflation".
Aber Moment! Entsteht dadurch denn tatsächlich erhöhte Inflation in unserem heutigen Sinne? Heutzutage versteht man unter Inflation eine Preissteigerung, und in diesem Szenario steigt natürlich per Definition der Preis von Gold, so viel ist klar. Aber steigen auch die anderen Preise? Insbesondere stellt sich die Frage: steigt der Preis des Warenkorbs, über den Inflation definiert wird?
Definieren wir also ein erstes Szenario: ein abgeschlossenes Goldstandard-System ohne Außenhandel, in dem die Regierung den Goldpreis erhöht, jedoch zunächst ohne das Haushaltsdefizit zu verändern.
Weiter oben haben wir uns überlegt, wodurch eine Preissteigerung entstehen kann: einerseits durch höhere Rohstoffpreise. Gold wird aber außer in Schmuck nur in eher geringen Mengen eingesetzt, von daher wird dieser Effekt auf die Inflation gering ausfallen. Andererseits kann Inflation potentiell durch erhöhte Nachfrage entstehen. Solange die Regierung ihr Haushaltsdefizit nicht ändert, wird sich aber auch die Nachfrage nicht ändern - bis auf denkbar minimale Effekte durch Menschen, die im Goldbesitz sind und dieses verkaufen, um sich dafür andere Dinge zu leisten. In diesem ersten Szenario ist also keine erhöhte Inflation zu erwarten, obwohl die Regierung den "Wert des Geldes" senkt.
Sobald die Regierung den niedrigeren Geldwert ausnutzt um ihr Haushaltsdefizit zu erhöhen, wird Inflation durch steigende Nachfrage möglich, aber auch da gilt wieder die Überlegung, dass die Wirtschaft die steigende Nachfrage zunächst durch Produktionssteigerungen ausgleichen kann.
Die Annahme eines abgeschlossenen Systems ist natürlich unrealistisch. In Wirklichkeit führt die Änderung des Goldpreises durch die Regierung zu einer Anpassung der Wechselkurse. Dadurch werden Importe teurer und die Nachfrage steigt in Form steigender Exporte. Beide Effekte tendieren zu einer erhöhten Inflation. Wie stark diese ausfällt hängt davon ab, wie groß der Einfluss des Außenhandels auf die Wirtschaft ist.
Soweit die Überlegungen zu einem Goldstandard-System: Inflation entsteht auch in einem Goldstandard-System nur so weit durch den reduzierten "Wert des Geldes", wie sich dieser auf den Außenhandel auswirkt. Jeder weitere signifikante Inflations-Effekt entsteht nicht durch den reduzierten "Wert des Geldes", sondern durch einen Anstieg von Nachfrage relativ zu den Produktionskapazitäten der realen Wirtschaft, wie ich ihn bereits besprochen habe.
Wie sieht es nun in einem Fiat-Geldsystem mit souveräner Regierung aus? Hier hat Geld keinen intrinsischen Wert. Von einem reduzierten "Wert des Geldes" zu sprechen ist also vollkommen unsinnig. Die naive Denke von "mehr Geld = mehr Inflation", die sich auch aus der Sprache des Goldstandards ergibt, ist selbst im Goldstandard-System falsch. In einem Fiat-System bricht sie vollständig in sich zusammen.
Modern Monetary Theory bietet einen Rahmen, um Inflation in Bezug auf das Haushaltsdefizit in einem Fiat-Geldsystem zu untersuchen. Dort kommt man zum Schluss, dass ein Haushaltsdefizit nur dann zu Inflation führt, wenn es zu hoch ist. Wie hoch ist zu hoch? Kommt drauf an. Manchmal kann die Grenze durchaus bei null liegen, also bei einem ausgeglichenen Haushalt, aber das ist dann einfach Zufall.
Quantitätstheorie
Mainstream-Ökonomen argumentieren sehr gerne, dass eine höhere "Geldmenge" (egal welche von den vielen vollkommen verschiedenen Definitionen ihnen gerade ins Konzept passt) zu Inflation führen wird. Sie haben so auch die letzten zwei Jahre angesichts der Maßnahmen der Zentralbanken weltweit argumentiert, und kaum jemand scheint es ihnen übel zu nehmen, dass das Inflationsgeunke ganz offensichtlich vollkommen unbegründet war. Um dieses Gerede zu durchschauen muss man verstehen, dass sich dahinter die Quantitätstheorie versteckt.
Die Quantitätstheorie wird ungefähr so hergeleitet. Sei M die "Geldmenge", P das Preisniveau, und Q die Menge umgesetzter Güter pro Zeiteinheit. Dann kann man einen Proportionalitätsfaktor erfinden, um diese Größen in eine Gleichung zu pressen. Man nennt ihn V, die "Umlaufgeschwindigkeit des Geldes", und kommt so zu der Gleichung:
MV = PQ
Eigentlich ist schon hier klar, dass die Quantitätstheorie als Theorie wenig brauchbar ist, denn natürlich kann man beliebige Proportionalitätsfaktoren erfinden um Gleichungen hinzuschreiben, aber da V außerhalb des Gedankengebäudes der Quantitätstheorie bedeutungslos und nicht direkt messbar ist, ist diese Gleichung wenig erhellend.
Zugegeben, selbst in der Physik gibt es solche Proportionalitätsfaktoren. Lange Zeit war die Fallbeschleunigung auf der Erde ein solcher Faktor. Nur: erstens haben sich die Physiker damit nicht zufrieden gegeben. Inzwischen können sie diesen Faktor aus den Gravitationsgesetzen erklären, die zwar auch wieder mit der Gravitationskonstante einen beliebigen Faktor enthalten, aber besonders glücklich sind die Physiker darüber ja auch nicht. Zweitens sprechen die empirischen Befunde dafür, dass die verbleibenden Proportionalitätsfaktoren in der Physik universelle Konstanten sind.
Die "Umlaufgeschwindigkeit des Geldes" V ist aber alles andere konstant und variiert ziemlich wild. Spätestens mit dieser Erkenntnis sollte man die Quantitätstheorie vernünftigerweise als hoffnungslosen Fall aufgeben.
Aber Mainstream-Ökonomen machen trotzdem weiter. Sie behaupten einfach: V und Q sind konstant. Also verdoppeln sich mit einer Verdopplung der Geldmenge auch die Preise. Das ist aber einfach falsch, wie man praktisch überall an den empirischen Fakten sieht, hier zum Beispiel im Vergleich US CPI vs. Geldmenge.
Die typische Ausrede ist dann, dass man sich die falsche Definition von Geldmenge ansieht, auch wenn es in Wirklichkeit einfach keine Definition von Geldmenge gibt, mit der die Vorhersage richtig wird. Vermutlich stammt die große Zahl von Geldmenge-Definitionen auch aus diesen erfolglosen Versuchen, die Quantitätstheorie zu reparieren. Offenbar gibt es hier einige Gläubige, die einfach ihre Definition von Gott verändern, sobald man ein rationales Argument dargelegt hat, das zeigt, wie unplausibel die Existenz Gottes ist.
Andere erklären dann, die Quantitätstheorie sei trotzdem richtig, weil V und Q nicht unbedingt konstant sind - und widersprechen damit genau dem, was sie erst fünf Minuten vorher selbst behauptet haben.
Aber nein, reden sie sich heraus, so haben sie das ja gar nicht gemeint. V und Q seien nur langfristig konstant, behaupten sie dann, ungeachtet dessen, dass V und Q über praktisch alle bisher betrachteten Zeiträume nicht konstant sind. Praktischerweise legen sich diese Ökonomen auch nicht darauf fest, wie groß die Zeiträume denn sind, die sie mit "langfristig" meinen.
Auf diese Art, "Wissenschaft" zu betreiben, könnten wir nun wirklich verzichten.
Und das Fazit?
Um Inflation ranken sich jede Menge Legenden, viele aus der längst vergangenen Zeit des Goldstandards, die meisten von ihnen gar frei erfunden. Nüchtern betrachtet ist ein geringes Maß an Inflation sinnvoll, und sowohl zu geringe als auch zu hohe Inflation schädlich.
Eine souveräne Regierung kann die Ziele moderate Inflation und (nahezu) volle Auslastung der Wirtschaft, inklusive echter Vollbeschäftigung (definiert als weniger als 2% Arbeitslosigkeit bei null Unterbeschäftigung) problemlos erreichen, wenn sie sich die Erkenntnisse von Modern Monetary Theory zunutze macht.
Dabei ist nicht auszuschließen, dass sich angelegte Sparvermögen in manchen Situationen als real weniger wertvoll als erhofft herausstellen. Diese Möglichkeit besteht aber immer, und mit den Erkenntnissen von Modern Monetary Theory kann eine Regierung auf reale volkswirtschaftliche Resultate zielen, die in jedem Fall mindestens so gut wie, und in vielen Fällen besser als die Resultate der klassischen, pro-zyklischen Sparkurs-Politik sind, auf die die heutige Diskussion in fast allen Staaten weltweit hinausläuft.
Coda
Unfug wie die Quantitätstheorie hält sich auch deshalb so hartnäckig, weil es der menschlichen Natur widerstrebt, eine einmal widerlegte Theorie kategorisch abzulehnen. Lieber gehen Menschen dazu über, dass ja vielleicht doch "ein klein bißchen Wahrheit" daran sein könnte.
Dazu möchte ich den großartigen Douglas Adams zitieren, der diese Denkweise wie folgt parodiert hat:
A man didn't understand how televisions work, and was convinced that there must be lots of little men inside the box, manipulating images at high speed. An engineer explained to him about high frequency modulations of the electromagnetic spectrum, about transmitters and receivers, about amplifiers and cathode ray tubes, about scan lines moving across and down a phosphorescent screen. The man listened to the engineer with careful attention, nodding his head at every step of the argument. At the end he pronounced himself satisfied. He really did now understand how televisions work. "But I expect there are just a few little men in there, aren't there?"
Ihm ging es dabei um die Kreationismusdebatte, aber ich habe diese Art von Reaktion auch in Diskussionen über Volkswirtschaft schon oft genug beobachtet.
Montag, Oktober 11, 2010
Unsichtbare Revolutionen
Welche Veränderungen des letzten Jahrhunderts haben unsere Gesellschaft am stärksten (um)geformt?
Eine spannende Frage, finde ich, mit vielen möglichen Antworten. Man kann sie aus politisch-historischer Perspektive beantworten mit den Geschehnissen, die später einmal in den Geschichtsbüchern stehen werden: die Weltkriege und der Kalte Krieg; die sozialen Veränderungen wie die Emanzipation der Frauen und die Umweltbewegung. Bei dieser Perspektive muss man allerdings aufpassen, ob man nicht womöglich Symptome und Resultate aus Versehen für Ursachen hält.
Schließlich ist die Frage nicht, in welcher Hinsicht sich unsere Geselltschäft (um)geformt hat, sondern warum sie sich (um)geformt hat.
Die meisten Menschen werden auf die Frage nach den Auslösern wahrscheinlich aus einer technischen Perspektive antworten und Erfindungen bzw. Entwicklungen wie das Auto, das Fernsehen, digitale Armbanduhren, Computer, Handys, und das Internet nennen. Das 20. Jahrhundert war auch tatsächlich ein Jahrhundert atemberaubend schneller technischer Entwicklung.
Aber dennoch bin ich von diese Antworten nicht so recht befriedigt. Es gibt andere Veränderungen, die sich langsam vollziehen und subtil, so dass wir ihrer meist nicht so recht bewusst sind und sie nicht hinterfragen. Gerade deshalb können sie aber unser Denken so vollkommen verändern, dass wir uns wenigsten ab und zu explizit mit ihnen auseinandersetzen sollten.
Heute will ich zwei Kandidaten vorstellen, von denen ich glaube, dass sie zu den wichtigsten "unsichtbaren Revolutionen" des letzten Jahrhunderts zählen.
1. Die Klaustrophobie der Menschheit
Seit Mitte des letzten Jahrhunderts haben wir Fotos der Erde - und wir finden das normal! Dabei ist es ein symbolischer Höhepunkt für gleich zwei jahrhundertelange Entwicklungen.
Zum einen wurde der Menschen zunehmend aus dem Zentrum des Universums gedrängt. Viele Menschen haben mit dieser Vorstellung so ihre Schwierigkeiten.
Zum anderen leben wir heute mit dem Gefühl, dass es keine weißen Flecken auf den Landkarten mehr gibt. Die plausible Existenz von Abenteuer jenseits der Grenzen unseres Horizonts ist uns durch die moderne Technik genommen worden.
Diese Sicht ist zwar einerseits nicht wirklich richtig. Es ist ja schon ein Klischee, dass wir über die Tiefsee (anscheinend) weniger wissen als über den Weltraum. Unerkundetes gibt es also eigentlich genug, aber das vorherrschende Gefühl ist ein anderes.
Unser Verständnis von uns selbst und unserer Welt muss sich dadurch geändert haben, und ich bin mir selbst nicht ganz im Klaren wie, und ob in guter oder in schlechter Richtung. Die eingangs erwähnte Umweltbewegung nährte sich ganz sicher auch aus dem gewachsenen Bewusstsein, dass die Erde alles ist, das wir haben.
Auf der anderen Seite hatten Gesellschaften früher immer ein Ventil für ihre Hyperaktiven, indem sie sie (bestenfalls) als Entdecker oder (schlimmstenfalls) als Eroberer ins Unbekannte geschickt haben. Dieses Ventil existiert auf der Erde nicht mehr in dieser Form, und ich frage mich, ob man nicht bewusst eine Besiedlung des Weltraums auch aus diesem Grund anstreben sollte.
Natürlich würden wir auch trotz Besiedlung des Weltraums nie mehr (modulo eines vollkommenen Zusammenbruchs unserer heutigen Zivilisation) in den Zustand zurückkehren, in dem wir eine Gegend erkunden müssen, indem wir sie persönlich besuchen. Erkundungssatelliten werden in der interplanetaren Raumfahrt immer eine Rolle spielen bevor tatsächlich Siedlungen gebaut würden.
Dennoch sollten wir uns die Frage stellen: leidet die Menschheit an Klaustrophobie? Ich persönlich sehne mich tatsächlich ab und zu nach weißen Flecken auf der Landkarte, auch wenn ich intellektuell natürlich weiß, dass es im Prinzip noch genug zu entdecken gäbe. Ob es einem signifikanten Teil der Bevölkerung bewusst oder unbewusst ähnlich geht? Ich weiß es nicht - genau für solche Fragen gibt es eigentlich Geisteswissenschaften.
2. Der Mythos Wettkampf
Als ich in Fribourg auf den Joint Operations Research Days war ist mir bei einem Vortrag eines Doktoranden ein Kommentar aufgefallen, der eigentlich gar nicht mathematischer Natur war.
Der Redner meinte, wir Menschen seien im ständigen Konkurrenzkampf und Wettbewerb untereinander. In der Tat ist diese Vorstellung so weit verbreitet, dass Konkurrenzkampf nicht nur als normal gilt, sondern sogar normativ ist. Wettbewerb wird von vielen Menschen als Ziel an sich verstanden. Wer Wettbewerb und Konkurrenz hinterfragt wird höchstens milde belächelt.
Dabei ist die Vorstellung des ewigen Konkurrenzkampfs vollkommen falsch.
Ich schlage euch, meinen Lesern, hiermit ein Selbst-Experiment vor. Beobachtet euch eine Woche lang selbst und notiert bewusst, wann ihr mit anderen Menschen konkurriert, und wann eure Interaktionen mit anderen Menschen eher sozialer und kooperativer Natur sind.
Bei mir war das Ergebnis eindeutig: natürlich gibt es Konkurrenzsituationen, aber sie sind sehr deutlich in der Minderheit, verglichen mit anderen Arten der Interaktion. Ich würde wetten, dass selbst für irgendwelche Investmentbanker die klar überwiegende Mehrheit aller Interaktionen mit anderen Menschen von sozialer bzw. kooperativer Natur ist und mit Konkurrenz nichts zu tun hat.
Woher kommt also der Glaube, Konkurrenz dominiere unser aller Verhalten?
Eine wichtige Rolle spielt die banale Tatsache, dass Konkurrenz spektakulär ist. Nicht nur die Medien stürzen sich darauf, auch Wissenschaftler zieht sie in ihren Bann. Daraus entstand im letzten Jahrhundert die durchaus nützliche und interessante Spieltheorie. Darüber hat dann leider so mancher, der sich professionell mit dem Konkurrenzverhalten von Menschen beschäftigt, vergessen, dass diese Verhaltensweise in Wirklichkeit nur einen Bruchteil menschlichen Handelns ausmacht.
Verbunden hat sich das dann einerseits mit der ganz ähnlich entstandenen und ebenso absurden Vorstellung, dass der Homo oeconomicus ein vollständiges Bild der menschlichen Natur ist, und andererseits mit politischen Strömungen, die ihre Ideologien nur allzugern zur unverrückbaren Wahrheit definieren wollten.
Heraus kommt ein Weltbild, das von den Menschen verlangt, sich ständig wie in einer Konkurrenzsituation zu verhalten, obwohl das überhaupt nicht mit der menschlichen Natur zusammenpasst.
Dieses Weltbild hat sich schleichend entwickelt und unser gesamtes Denken unterwandert, und es sieht so aus, als würden wir uns dadurch mehr schaden als nützen.
Social Engineering
Es ist also wichtig zu verstehen, wie diese schleichenden Veränderungen funktionieren, wodurch sie ausgelöst werden, und welche Folgen sie haben. Aber es stellt sich auch die umgekehrte Frage: können wir solche schleichenden Veränderungen erzeugen, mit dem Ziel, bestimmte Aspekte unserer Gesellschaft zu verbessern?
Es geht also um Social Engineering - nicht zu verwechseln mit Social Engineering. Die Vorstellung davon löst sicher bei vielen Abstoßungsreflexe aus, und man muss schon ein sehr vertrockneter Technokrat sein, um dieser Idee vollkommen unkritisch gegenüberzustehen. Andererseits gibt es drei wichtige Gründe, die Abstoßungsreflexe zumindest zeitweise zu unterdrücken:
Mit dem letzten Punkt meine ich nicht nur den bereits erwähnten Mythos des permanenten Konkurrenzkampfs, sondern zum Beispiel auch die vorherrschende Vorstellung des freien Markts, den der Staat auf jeden Fall alleine lassen muss weil sonst die Welt untergeht (oder so). Auch diese Vorstellung vom für die Gesellschaft positiven freien Markt gehört zu den unsichtbaren Revolutionen - ich habe sie eingangs nicht erwähnt, damit im Internet noch genug Platz bleibt. Dieser Post wird schließlich auch so sehr lang.
Kann man angesichts dieser - empirisch widerlegten - Vorstellung nicht etwas tun?
Es ist schwierig, einen einmal in die Welt gesetzten Mythos wieder zu entfernen. Aber vielleicht kann man ihn ja so verbiegen, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Schließlich können Märkte ja tatsächlich positive Resultate für die Gesellschaft erzielen, aber eben nur, wenn die Rahmenbedingungen richtig sind.
Über einen möglichen Weg dorthin bin ich gestolpert, als ich neulich hier einen Post geschrieben habe. Der Gedanke war dabei in etwa der folgende:
Durch diese Formulierung wird die Leistungsfähigkeit der Märkte nicht in Frage gestellt, eher im Gegenteil. Somit wird auch einem Hardliner der Ideologie des freien Marktes eher ermöglicht, dem Satz zuzustimmen und ihn als eigene Idee zu übernehmen. Gleichzeitig wird dieser Leistungsfähigkeit aber ein Ziel gegeben und die Idee ins Spiel gebracht, dass "der Markt" Hilfe braucht in Form eines gestaltenden Staates. Die Formulierung beinhaltet auch eine Komponente, die den Staat implizit über Firmen und Banken, gleichzeitig aber unter die Menschen stellt. Sie zementiert dadurch eine Schlüsselidee progressiven Denkens.
Ich weiß nicht, wie leicht oder schwer es wäre, diesen Satz ins Mainstream-Gedankengut einzuschleusen. Aber stellt euch einfach vor, in den Talkshowrunden Deutschlands wäre der oben zitierte Satz so selbstverständlich wie heutzutage die Vorstellung, der freie Markt würde ganz von alleine alles gut machen. Würde das nicht von ganz alleine zu einer deutlich besseren Politik führen?
Eine spannende Frage, finde ich, mit vielen möglichen Antworten. Man kann sie aus politisch-historischer Perspektive beantworten mit den Geschehnissen, die später einmal in den Geschichtsbüchern stehen werden: die Weltkriege und der Kalte Krieg; die sozialen Veränderungen wie die Emanzipation der Frauen und die Umweltbewegung. Bei dieser Perspektive muss man allerdings aufpassen, ob man nicht womöglich Symptome und Resultate aus Versehen für Ursachen hält.
Schließlich ist die Frage nicht, in welcher Hinsicht sich unsere Geselltschäft (um)geformt hat, sondern warum sie sich (um)geformt hat.
Die meisten Menschen werden auf die Frage nach den Auslösern wahrscheinlich aus einer technischen Perspektive antworten und Erfindungen bzw. Entwicklungen wie das Auto, das Fernsehen, digitale Armbanduhren, Computer, Handys, und das Internet nennen. Das 20. Jahrhundert war auch tatsächlich ein Jahrhundert atemberaubend schneller technischer Entwicklung.
Aber dennoch bin ich von diese Antworten nicht so recht befriedigt. Es gibt andere Veränderungen, die sich langsam vollziehen und subtil, so dass wir ihrer meist nicht so recht bewusst sind und sie nicht hinterfragen. Gerade deshalb können sie aber unser Denken so vollkommen verändern, dass wir uns wenigsten ab und zu explizit mit ihnen auseinandersetzen sollten.
Heute will ich zwei Kandidaten vorstellen, von denen ich glaube, dass sie zu den wichtigsten "unsichtbaren Revolutionen" des letzten Jahrhunderts zählen.
1. Die Klaustrophobie der Menschheit
Seit Mitte des letzten Jahrhunderts haben wir Fotos der Erde - und wir finden das normal! Dabei ist es ein symbolischer Höhepunkt für gleich zwei jahrhundertelange Entwicklungen.
Zum einen wurde der Menschen zunehmend aus dem Zentrum des Universums gedrängt. Viele Menschen haben mit dieser Vorstellung so ihre Schwierigkeiten.
Zum anderen leben wir heute mit dem Gefühl, dass es keine weißen Flecken auf den Landkarten mehr gibt. Die plausible Existenz von Abenteuer jenseits der Grenzen unseres Horizonts ist uns durch die moderne Technik genommen worden.
Diese Sicht ist zwar einerseits nicht wirklich richtig. Es ist ja schon ein Klischee, dass wir über die Tiefsee (anscheinend) weniger wissen als über den Weltraum. Unerkundetes gibt es also eigentlich genug, aber das vorherrschende Gefühl ist ein anderes.
Unser Verständnis von uns selbst und unserer Welt muss sich dadurch geändert haben, und ich bin mir selbst nicht ganz im Klaren wie, und ob in guter oder in schlechter Richtung. Die eingangs erwähnte Umweltbewegung nährte sich ganz sicher auch aus dem gewachsenen Bewusstsein, dass die Erde alles ist, das wir haben.
Auf der anderen Seite hatten Gesellschaften früher immer ein Ventil für ihre Hyperaktiven, indem sie sie (bestenfalls) als Entdecker oder (schlimmstenfalls) als Eroberer ins Unbekannte geschickt haben. Dieses Ventil existiert auf der Erde nicht mehr in dieser Form, und ich frage mich, ob man nicht bewusst eine Besiedlung des Weltraums auch aus diesem Grund anstreben sollte.
Natürlich würden wir auch trotz Besiedlung des Weltraums nie mehr (modulo eines vollkommenen Zusammenbruchs unserer heutigen Zivilisation) in den Zustand zurückkehren, in dem wir eine Gegend erkunden müssen, indem wir sie persönlich besuchen. Erkundungssatelliten werden in der interplanetaren Raumfahrt immer eine Rolle spielen bevor tatsächlich Siedlungen gebaut würden.
Dennoch sollten wir uns die Frage stellen: leidet die Menschheit an Klaustrophobie? Ich persönlich sehne mich tatsächlich ab und zu nach weißen Flecken auf der Landkarte, auch wenn ich intellektuell natürlich weiß, dass es im Prinzip noch genug zu entdecken gäbe. Ob es einem signifikanten Teil der Bevölkerung bewusst oder unbewusst ähnlich geht? Ich weiß es nicht - genau für solche Fragen gibt es eigentlich Geisteswissenschaften.
2. Der Mythos Wettkampf
Als ich in Fribourg auf den Joint Operations Research Days war ist mir bei einem Vortrag eines Doktoranden ein Kommentar aufgefallen, der eigentlich gar nicht mathematischer Natur war.
Der Redner meinte, wir Menschen seien im ständigen Konkurrenzkampf und Wettbewerb untereinander. In der Tat ist diese Vorstellung so weit verbreitet, dass Konkurrenzkampf nicht nur als normal gilt, sondern sogar normativ ist. Wettbewerb wird von vielen Menschen als Ziel an sich verstanden. Wer Wettbewerb und Konkurrenz hinterfragt wird höchstens milde belächelt.
Dabei ist die Vorstellung des ewigen Konkurrenzkampfs vollkommen falsch.
Ich schlage euch, meinen Lesern, hiermit ein Selbst-Experiment vor. Beobachtet euch eine Woche lang selbst und notiert bewusst, wann ihr mit anderen Menschen konkurriert, und wann eure Interaktionen mit anderen Menschen eher sozialer und kooperativer Natur sind.
Bei mir war das Ergebnis eindeutig: natürlich gibt es Konkurrenzsituationen, aber sie sind sehr deutlich in der Minderheit, verglichen mit anderen Arten der Interaktion. Ich würde wetten, dass selbst für irgendwelche Investmentbanker die klar überwiegende Mehrheit aller Interaktionen mit anderen Menschen von sozialer bzw. kooperativer Natur ist und mit Konkurrenz nichts zu tun hat.
Woher kommt also der Glaube, Konkurrenz dominiere unser aller Verhalten?
Eine wichtige Rolle spielt die banale Tatsache, dass Konkurrenz spektakulär ist. Nicht nur die Medien stürzen sich darauf, auch Wissenschaftler zieht sie in ihren Bann. Daraus entstand im letzten Jahrhundert die durchaus nützliche und interessante Spieltheorie. Darüber hat dann leider so mancher, der sich professionell mit dem Konkurrenzverhalten von Menschen beschäftigt, vergessen, dass diese Verhaltensweise in Wirklichkeit nur einen Bruchteil menschlichen Handelns ausmacht.
Verbunden hat sich das dann einerseits mit der ganz ähnlich entstandenen und ebenso absurden Vorstellung, dass der Homo oeconomicus ein vollständiges Bild der menschlichen Natur ist, und andererseits mit politischen Strömungen, die ihre Ideologien nur allzugern zur unverrückbaren Wahrheit definieren wollten.
Heraus kommt ein Weltbild, das von den Menschen verlangt, sich ständig wie in einer Konkurrenzsituation zu verhalten, obwohl das überhaupt nicht mit der menschlichen Natur zusammenpasst.
Dieses Weltbild hat sich schleichend entwickelt und unser gesamtes Denken unterwandert, und es sieht so aus, als würden wir uns dadurch mehr schaden als nützen.
Social Engineering
Es ist also wichtig zu verstehen, wie diese schleichenden Veränderungen funktionieren, wodurch sie ausgelöst werden, und welche Folgen sie haben. Aber es stellt sich auch die umgekehrte Frage: können wir solche schleichenden Veränderungen erzeugen, mit dem Ziel, bestimmte Aspekte unserer Gesellschaft zu verbessern?
Es geht also um Social Engineering - nicht zu verwechseln mit Social Engineering. Die Vorstellung davon löst sicher bei vielen Abstoßungsreflexe aus, und man muss schon ein sehr vertrockneter Technokrat sein, um dieser Idee vollkommen unkritisch gegenüberzustehen. Andererseits gibt es drei wichtige Gründe, die Abstoßungsreflexe zumindest zeitweise zu unterdrücken:
- Wie jede Technologie wäre auch diese stets zum Guten wie zum Bösen nutzbar.
- Social Engineering wird bereits in großem Stil eingesetzt, und zwar, wie ich persönlich finde, nicht gerade zu einem guten Zweck.
- Es gäbe einige implizite Glaubenssätze in unserer Gesellschaft, deren Veränderung vermutlich eine langfristige Besserstellung der breiten Bevölkerung zur Folge hätte.
Mit dem letzten Punkt meine ich nicht nur den bereits erwähnten Mythos des permanenten Konkurrenzkampfs, sondern zum Beispiel auch die vorherrschende Vorstellung des freien Markts, den der Staat auf jeden Fall alleine lassen muss weil sonst die Welt untergeht (oder so). Auch diese Vorstellung vom für die Gesellschaft positiven freien Markt gehört zu den unsichtbaren Revolutionen - ich habe sie eingangs nicht erwähnt, damit im Internet noch genug Platz bleibt. Dieser Post wird schließlich auch so sehr lang.
Kann man angesichts dieser - empirisch widerlegten - Vorstellung nicht etwas tun?
Es ist schwierig, einen einmal in die Welt gesetzten Mythos wieder zu entfernen. Aber vielleicht kann man ihn ja so verbiegen, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Schließlich können Märkte ja tatsächlich positive Resultate für die Gesellschaft erzielen, aber eben nur, wenn die Rahmenbedingungen richtig sind.
Über einen möglichen Weg dorthin bin ich gestolpert, als ich neulich hier einen Post geschrieben habe. Der Gedanke war dabei in etwa der folgende:
Demokratische Marktwirtschaft bedeutet: der Staat gestaltet die Märkte so, dass die Beteiligten derart gegeneinander ausgespielt werden, dass dabei das bestmögliche Resultat für die am schlechtesten gestellten Menschen im Land erzielt wird.
Durch diese Formulierung wird die Leistungsfähigkeit der Märkte nicht in Frage gestellt, eher im Gegenteil. Somit wird auch einem Hardliner der Ideologie des freien Marktes eher ermöglicht, dem Satz zuzustimmen und ihn als eigene Idee zu übernehmen. Gleichzeitig wird dieser Leistungsfähigkeit aber ein Ziel gegeben und die Idee ins Spiel gebracht, dass "der Markt" Hilfe braucht in Form eines gestaltenden Staates. Die Formulierung beinhaltet auch eine Komponente, die den Staat implizit über Firmen und Banken, gleichzeitig aber unter die Menschen stellt. Sie zementiert dadurch eine Schlüsselidee progressiven Denkens.
Ich weiß nicht, wie leicht oder schwer es wäre, diesen Satz ins Mainstream-Gedankengut einzuschleusen. Aber stellt euch einfach vor, in den Talkshowrunden Deutschlands wäre der oben zitierte Satz so selbstverständlich wie heutzutage die Vorstellung, der freie Markt würde ganz von alleine alles gut machen. Würde das nicht von ganz alleine zu einer deutlich besseren Politik führen?
Donnerstag, Oktober 07, 2010
The Design of Everyday Things
In diesem Buch schildert Donald Norman anhand vieler Beispiele guten und schlechten Designs die Prinzipien, nach denen benutzbare Gegenstände entworfen werden sollten. Seine Beispiel reichen von Türgriffen über Telefonsysteme bis zu Fabrikanlagen, ließen sich aber genauso auf Computerschnittstellen und Webseiten übertragen. Ich kann das Buch jedem empfehlen, der sich für das Thema Benutzbarkeit ein wenig interessiert.
Die meisten der Regeln, die Donald Norman aus psychologischen Erkenntnissen ableitet, sind zwar im Grunde einfach "nur" einleuchtende Banalitäten. Sich der grundlegenden Banalitäten so richtig bewusst zu werden ist aber nie verkehrt, zumal wenn dieser Vorgang durch sehr anschauliche Beispiele begleitet wird.
Über ein solches Beispiel bin ich selbst vor Kurzem in einem Regionalzug der Deutschen Bahn gestolpert. Die Türen zwischen Eingangsbereich und Sitzraum der Waggons waren in diesem Zug baulich von einer alten manuellen Tür nicht zu unterscheiden. Jede Tür hatte einen soliden Griff, der zum schwungvollen manuellen Öffnen und Schließen der Tür einlud.
Dummerweise war in die Türen aber eine Automatik eingebaut. Eine ganze Reihe von Fahrgästen - mich eingeschlossen - hat, von der Griffform verführt und in dem Willen, den Mitreisenden einen Gefallen zu tun, versucht, diese Türen zu schließen. Die Automatik verhinderte aber, dass sich die Türen vor Ablauf eines festen Zeitfensters wieder schließen ließen.
Regelmässige "Gewalt gegen Sachen" war die Folge, die weder der Psyche der Bahnfahrer noch der Türe selbst - und damit auch dem Budget der Bahn - besonders bekömmlich sein konnte.
Dieses Problem ist offenbar sogar jemandem aufgefallen, denn an den Türen waren kleine Aufkleber mit dem Aufdruck "Tür schließt automatisch" angebracht. Natürlich liest sowas erstens kein Mensch, und zweitens waren diese Aufkleber an vielen Türen wegen Abrieb ohnehin unleserlich.
Hätten die Designer dieser Türen das eingangs erwähnte Buch gelesen, so wäre ihnen klar gewesen, dass sie sich auf die Suche nach einer echten Lösung hätten begeben müssen.
Spontan fallen mir dazu zwei mögliche Ansätze ein. So könnte die Automatik vielleicht so gestaltet sein, dass sie sich nicht gegen ein Zuziehen der Tür wehrt. Alternativ könnte man die Griffe anders gestalten. Dass die zweite Option nicht gewählt wurde ist überraschend, weil sie bei den automatischen Türen in IC-Waggons zum Einsatz kommt. Die Griffe dieser Türen knicken beim Ziehen ab und signalisierem dem Benutzer dadurch, dass diese Türen nicht mit Kraftaufwand zu öffnen oder zu schließen sind, sondern dass es sich bei den Griffen in Wirklichkeit um eine Art Knopf oder Schalter handelt.
Es wäre so einfach.
Stattdessen leiden tagtäglich Menschen unter schlechtem Design, das den Alltag zwar nicht viel, aber doch vollkommen unnötig verkompliziert.
Die meisten der Regeln, die Donald Norman aus psychologischen Erkenntnissen ableitet, sind zwar im Grunde einfach "nur" einleuchtende Banalitäten. Sich der grundlegenden Banalitäten so richtig bewusst zu werden ist aber nie verkehrt, zumal wenn dieser Vorgang durch sehr anschauliche Beispiele begleitet wird.
Über ein solches Beispiel bin ich selbst vor Kurzem in einem Regionalzug der Deutschen Bahn gestolpert. Die Türen zwischen Eingangsbereich und Sitzraum der Waggons waren in diesem Zug baulich von einer alten manuellen Tür nicht zu unterscheiden. Jede Tür hatte einen soliden Griff, der zum schwungvollen manuellen Öffnen und Schließen der Tür einlud.
Dummerweise war in die Türen aber eine Automatik eingebaut. Eine ganze Reihe von Fahrgästen - mich eingeschlossen - hat, von der Griffform verführt und in dem Willen, den Mitreisenden einen Gefallen zu tun, versucht, diese Türen zu schließen. Die Automatik verhinderte aber, dass sich die Türen vor Ablauf eines festen Zeitfensters wieder schließen ließen.
Regelmässige "Gewalt gegen Sachen" war die Folge, die weder der Psyche der Bahnfahrer noch der Türe selbst - und damit auch dem Budget der Bahn - besonders bekömmlich sein konnte.
Dieses Problem ist offenbar sogar jemandem aufgefallen, denn an den Türen waren kleine Aufkleber mit dem Aufdruck "Tür schließt automatisch" angebracht. Natürlich liest sowas erstens kein Mensch, und zweitens waren diese Aufkleber an vielen Türen wegen Abrieb ohnehin unleserlich.
Hätten die Designer dieser Türen das eingangs erwähnte Buch gelesen, so wäre ihnen klar gewesen, dass sie sich auf die Suche nach einer echten Lösung hätten begeben müssen.
Spontan fallen mir dazu zwei mögliche Ansätze ein. So könnte die Automatik vielleicht so gestaltet sein, dass sie sich nicht gegen ein Zuziehen der Tür wehrt. Alternativ könnte man die Griffe anders gestalten. Dass die zweite Option nicht gewählt wurde ist überraschend, weil sie bei den automatischen Türen in IC-Waggons zum Einsatz kommt. Die Griffe dieser Türen knicken beim Ziehen ab und signalisierem dem Benutzer dadurch, dass diese Türen nicht mit Kraftaufwand zu öffnen oder zu schließen sind, sondern dass es sich bei den Griffen in Wirklichkeit um eine Art Knopf oder Schalter handelt.
Es wäre so einfach.
Stattdessen leiden tagtäglich Menschen unter schlechtem Design, das den Alltag zwar nicht viel, aber doch vollkommen unnötig verkompliziert.
Freitag, Oktober 01, 2010
Auf de schwäb'sche Eisebahne...
Nachtrag: Hier ist ein sehr ausführlicher und empfehlenswerter Artikel, der sich mit der Diskussion um S21 auseinandersetzt. Einige der Contra-Argumente sind zwar eher contra S21 in seiner jetzigen Form und könnten im Prinzip ausgeräumt werden wenn man nur wollte, aber gerade deswegen wird um so klarer, dass ein Baustopp, eine ruhige Diskussion ohne Astroturfer, und danach ein Volksentscheid notwendig sind. So, und jetzt mein unveränderter ursprünglicher Kommentar.
... soll Schtuegart unterirdisch werden. Vorläufig ist jedoch erstmal nur die Politik der CDU unterirdisch.
Eigentlich dachte ich, ich halte mich zum Thema Stuttgart 21 zurück da schon genügend Senf im Umlauf ist. Aber es will partout nicht verschwinden, und die jüngsten Ereignisse, bei denen sich die Regierung mit dem Gestus der herrschaftsgewohnten Militärdiktatur gibt, sind wirklich unglaublich. Daher will ich doch kurz die Gedanken, die ich dazu seit längerem in mir trage, aufschreiben.
Zunächst zur Sache an sich. Ich sehe drei potentielle Probleme des Projekts Stuttgart 21.
1. Es erscheint mir etwas suspekt, dass der zukünftige Bahnhof nur 8 Gleise haben soll angesichts der 16 Gleise des heutigen Stuttgarter Bahnhofs. Natürlich läuft die Abfertigung der Züge in einem Durchgangsbahnhof flüssiger, aber jeder weiß, dass es im Bahnbetrieb zu Ausfällen kommt. Vielleicht muss an einer Oberleitung etwas repariert werden, vielleicht hat sich jemand vor einen einfahrenden Zug geworfen. Aus welchem Grund auch immer, Gleise müssen zeitweise gesperrt werden, und dann sollten Ausweichkapazitäten vorhanden sein.
Genau kann ich das zwar nicht beurteilen, weil ich keine Statistiken zur Belastung und Gleisschwierigkeiten in Durchgangsbahnhöfen habe, aber gerade bei einem so großen Infrastrukturprojekt sollte man nicht am falschen Ende sparen. Schließlich sollte der neue Bahnhof - so er denn gebaut wird - idealerweise die nächsten 100 Jahre oder länger ohne all zu aufwendige Umbau- und Renovierungsmaßnahmen brauchbar bleiben.
2. Ich kann verstehen, dass die Stuttgarter nicht ihr Stadtarchiv verlieren wollen. Wenn an der Theorie der Schwierigkeiten beim Tunnelbau und anderen Schlampereien etwas dran sein sollte, so muss das unbedingt korrigiert werden, auch wenn es die Kosten des Projekts erhöhen würde. Ich kann das selbst schlecht beurteilen, aber es spricht nicht gegen das Projekt an sich.
3. Es gäbe wohl im Eisenbahnnetz andere Stellen, an denen man mit der gleichen Geldmenge sinnvollere Verbesserungen erzielen könnte.
Dann argumentieren manche noch rein grundsätzlich mit den großen Kosten des Projekts, aber diese Argumentation ist angesichts der Tatsache, dass wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden, die durch fiskalische Impulse beendet werden könnte, ziemlich kurzsichtig. Zwar wären diese Impulse nicht gerade im reichen Süden Deutschlands notwendig, aber dieses Argument fällt eher unter Punkt 3.
Punkt 3 ist jedoch nicht, weshalb die Stuttgarter auf die Straße gehen, und die anderen Kritikpunkte sollten sich problemlos klären lassen. Von daher kann ich ehrlich gesagt überhaupt nicht verstehen, was die Leute dazu bringt, in Stuttgart zu demonstrieren, außer engstirnigem Konservatismus. Was die Sache angeht muss ich hier also überrascht feststellen, mit der CDU ausnahmsweise einer Meinung zu sein.
Trotzdem verhält sich die Landesregierung mit ihrem Beharren auf dem Weiterbau abgrundtief falsch, und auch Angela Merkel demonstriert mal wieder, dass sie nicht das Zeug zur vorbildlich demokratischen Staatsfrau hat.
Das war übrigens auch schon vor den Gewaltexzessen der Polizei klar.
Wenn im politikverdrossenen Deutschland die Menschen endlich demonstrieren gehen und dabei noch nicht mal eine Bahnsteigkarte kaufen, dann darf man dieses zarte Pflänzchen der Meinungsäußerung und politischen Partizipation nicht mit Füßen treten.
Intellektuelle Kreise haben in Deutschland verständlicherweise eine gewisse Scheu vor Volksentscheiden. Aber hier geht es nicht um das Grundgesetz. Es geht auch nicht um Menschenrechte oder die Prinzipien eines Rechtsstaates. Es geht um simple Lokalpolitik, bei der es gut und recht ist, wenn sich die Bürger ganz direkt und persönlich einmischen.
Lasst die Stuttgarter doch einfach in einem Volksentscheid abstimmen. Wenn sie dafür stimmen, gut. Wenn sie dagegen stimmen, noch besser: dann setzt man das für Stuttgart 21 eingeplante Geld eben anderswo sinnvoller ein.
Ja, natürlich gibt es eine Lobby von Bauunternehmern und ihren Freunden, die um ihre Aufträge fürchten, aber es heißt schließlich nicht Kapitalokratie, sondern Demokratie. Der in Deutschland so beliebte Politikerreflex auf den sich Mappus nun bezieht, alles gleich zur Vertrauensfrage zu erklären, die bei der nächsten Wahl entschieden werden soll, widert mich an.
Es geht hier nicht um Parteien, sondern um die Sache, also lasst über die Sache abstimmen.
... soll Schtuegart unterirdisch werden. Vorläufig ist jedoch erstmal nur die Politik der CDU unterirdisch.
Eigentlich dachte ich, ich halte mich zum Thema Stuttgart 21 zurück da schon genügend Senf im Umlauf ist. Aber es will partout nicht verschwinden, und die jüngsten Ereignisse, bei denen sich die Regierung mit dem Gestus der herrschaftsgewohnten Militärdiktatur gibt, sind wirklich unglaublich. Daher will ich doch kurz die Gedanken, die ich dazu seit längerem in mir trage, aufschreiben.
Zunächst zur Sache an sich. Ich sehe drei potentielle Probleme des Projekts Stuttgart 21.
1. Es erscheint mir etwas suspekt, dass der zukünftige Bahnhof nur 8 Gleise haben soll angesichts der 16 Gleise des heutigen Stuttgarter Bahnhofs. Natürlich läuft die Abfertigung der Züge in einem Durchgangsbahnhof flüssiger, aber jeder weiß, dass es im Bahnbetrieb zu Ausfällen kommt. Vielleicht muss an einer Oberleitung etwas repariert werden, vielleicht hat sich jemand vor einen einfahrenden Zug geworfen. Aus welchem Grund auch immer, Gleise müssen zeitweise gesperrt werden, und dann sollten Ausweichkapazitäten vorhanden sein.
Genau kann ich das zwar nicht beurteilen, weil ich keine Statistiken zur Belastung und Gleisschwierigkeiten in Durchgangsbahnhöfen habe, aber gerade bei einem so großen Infrastrukturprojekt sollte man nicht am falschen Ende sparen. Schließlich sollte der neue Bahnhof - so er denn gebaut wird - idealerweise die nächsten 100 Jahre oder länger ohne all zu aufwendige Umbau- und Renovierungsmaßnahmen brauchbar bleiben.
2. Ich kann verstehen, dass die Stuttgarter nicht ihr Stadtarchiv verlieren wollen. Wenn an der Theorie der Schwierigkeiten beim Tunnelbau und anderen Schlampereien etwas dran sein sollte, so muss das unbedingt korrigiert werden, auch wenn es die Kosten des Projekts erhöhen würde. Ich kann das selbst schlecht beurteilen, aber es spricht nicht gegen das Projekt an sich.
3. Es gäbe wohl im Eisenbahnnetz andere Stellen, an denen man mit der gleichen Geldmenge sinnvollere Verbesserungen erzielen könnte.
Dann argumentieren manche noch rein grundsätzlich mit den großen Kosten des Projekts, aber diese Argumentation ist angesichts der Tatsache, dass wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden, die durch fiskalische Impulse beendet werden könnte, ziemlich kurzsichtig. Zwar wären diese Impulse nicht gerade im reichen Süden Deutschlands notwendig, aber dieses Argument fällt eher unter Punkt 3.
Punkt 3 ist jedoch nicht, weshalb die Stuttgarter auf die Straße gehen, und die anderen Kritikpunkte sollten sich problemlos klären lassen. Von daher kann ich ehrlich gesagt überhaupt nicht verstehen, was die Leute dazu bringt, in Stuttgart zu demonstrieren, außer engstirnigem Konservatismus. Was die Sache angeht muss ich hier also überrascht feststellen, mit der CDU ausnahmsweise einer Meinung zu sein.
Trotzdem verhält sich die Landesregierung mit ihrem Beharren auf dem Weiterbau abgrundtief falsch, und auch Angela Merkel demonstriert mal wieder, dass sie nicht das Zeug zur vorbildlich demokratischen Staatsfrau hat.
Das war übrigens auch schon vor den Gewaltexzessen der Polizei klar.
Wenn im politikverdrossenen Deutschland die Menschen endlich demonstrieren gehen und dabei noch nicht mal eine Bahnsteigkarte kaufen, dann darf man dieses zarte Pflänzchen der Meinungsäußerung und politischen Partizipation nicht mit Füßen treten.
Intellektuelle Kreise haben in Deutschland verständlicherweise eine gewisse Scheu vor Volksentscheiden. Aber hier geht es nicht um das Grundgesetz. Es geht auch nicht um Menschenrechte oder die Prinzipien eines Rechtsstaates. Es geht um simple Lokalpolitik, bei der es gut und recht ist, wenn sich die Bürger ganz direkt und persönlich einmischen.
Lasst die Stuttgarter doch einfach in einem Volksentscheid abstimmen. Wenn sie dafür stimmen, gut. Wenn sie dagegen stimmen, noch besser: dann setzt man das für Stuttgart 21 eingeplante Geld eben anderswo sinnvoller ein.
Ja, natürlich gibt es eine Lobby von Bauunternehmern und ihren Freunden, die um ihre Aufträge fürchten, aber es heißt schließlich nicht Kapitalokratie, sondern Demokratie. Der in Deutschland so beliebte Politikerreflex auf den sich Mappus nun bezieht, alles gleich zur Vertrauensfrage zu erklären, die bei der nächsten Wahl entschieden werden soll, widert mich an.
Es geht hier nicht um Parteien, sondern um die Sache, also lasst über die Sache abstimmen.
Donnerstag, September 30, 2010
Überdruckventil
Wie zwei der jüngeren Posts auf diesem Blog erkennen lassen, habe ich mich in jüngerer Zeit mit der Funktionsweise von Geld beschäftigt. Außerdem bin ich begeisterter Leser der Süddeutschen Zeitung via e-Paper-Abonnement.
Diese beiden Umstände sind in den letzten Wochen zunehmend in Konflikt geraten, da beim Lesen der Zeitung recht schnell erkennbar wird, dass die darin zitierten Politiker und "Experten", aber auch die Redakteure selbst, auf der grundlegensten Ebene ganz offensichtlich nicht verstehen, wie ein modernes Fiat-Geldsystem funktioniert. Das ist insofern verständlich als sich da vor 40 Jahren ganz massiv etwas verändert hat und diese Menschen zum Großteil bei anderen Menschen gelernt haben, für die wiederum diese Umstellung zu spät im Leben kam um noch umzudenken.
Trotzdem löst es Reaktionen aus die mich dazu bewogen haben, Dampf auf einem neuen Blog abzulassen. Auf einem neuen Blog deshalb, weil ich die fast, aber nicht ganz, immer länger überdachten und meist länger editierten Beiträge hier nicht mit kurzfristig geschriebenen Kommentaren zur jeweiligen SZ des Tages verwässern möchte.
Es ist ein Experiment, und ich weiß noch nicht, wie lange ich es durchziehen werde. Normalerweise bin ich ein Mensch, dessen Zorn schnell verebbt und der schnell vergibt, aber vielleicht beiße ich mich an dem Thema ja auch fest. Wir werden sehen.
Diese beiden Umstände sind in den letzten Wochen zunehmend in Konflikt geraten, da beim Lesen der Zeitung recht schnell erkennbar wird, dass die darin zitierten Politiker und "Experten", aber auch die Redakteure selbst, auf der grundlegensten Ebene ganz offensichtlich nicht verstehen, wie ein modernes Fiat-Geldsystem funktioniert. Das ist insofern verständlich als sich da vor 40 Jahren ganz massiv etwas verändert hat und diese Menschen zum Großteil bei anderen Menschen gelernt haben, für die wiederum diese Umstellung zu spät im Leben kam um noch umzudenken.
Trotzdem löst es Reaktionen aus die mich dazu bewogen haben, Dampf auf einem neuen Blog abzulassen. Auf einem neuen Blog deshalb, weil ich die fast, aber nicht ganz, immer länger überdachten und meist länger editierten Beiträge hier nicht mit kurzfristig geschriebenen Kommentaren zur jeweiligen SZ des Tages verwässern möchte.
Es ist ein Experiment, und ich weiß noch nicht, wie lange ich es durchziehen werde. Normalerweise bin ich ein Mensch, dessen Zorn schnell verebbt und der schnell vergibt, aber vielleicht beiße ich mich an dem Thema ja auch fest. Wir werden sehen.
Sonntag, September 19, 2010
Verstaatlicht die Stromnetze!
Am Dienstag las ich einen aufmunternden Artikel auf Seite Drei der SZ über ein ansonsten eher unbekanntes Dorf namens Dardesheim. Laut Artikel erzeugt Dardesheim mit Windkraft an guten Tagen das 40fache seines Energieverbrauchs, und der Kommune geht es durch die Windkraft finanziell so gut wie nur wenigen anderen im Land. Das alles geschieht in einer Zeit, in der die Bundesregierung in Sachen Energiekonzepte stolz ihre Vorvorgestrigkeit demonstriert.
Eine Zukunft mit erneuerbaren Energien ist realistisch, wird hier die frohe Botschaft am lebenden Beispiel verkündet.
Erneuerbare Energien sind aber auch eine technische Herausforderung für die Stromnetze. Der Wind lässt sich nicht kontrollieren, und es ist eine Schande, wenn Windräder stillgelegt werden müssen, weil die Stromnetze nicht in der Lage sind, die Kapazitätsspitzen abzutransportieren, oder weil überschüssige Energie nicht gespeichert werden kann.
Diese Probleme zu lösen ist technisch machbar, erfordert aber natürlich signifikante Infrastrukturinvestitionen - und das ist das Problem. Die Infrastruktur steckt nämlich fest in den Händen der Betreiber der Kraftwerke von gestern. Investitionen in Infrastruktur, die erneuerbare Energien nützlicher machen würden, sind nicht in deren Interesse.
Und gerade die politischen Parteien, die immer am lautesten von Marktwirtschaft posaunen, zeigen in dieser für unsere Zukunft so zentralen Situation, dass sie von Marktwirtschaft eigentlich überhaupt nichts verstehen.
Was bedeutet Marktwirtschaft denn aus demokratischer Perspektive?
Demokratische Marktwirtschaft bedeutet, dass der Staat den Markt so gestaltet, dass die Teilnehmer darauf gegeneinander ausgespielt werden um dadurch das beste Ergebnis für die Bürger des Landes zu erzielen.
Damit das im Fall der Stromversorgung funktionieren kann, muss der Staat die physikalische Infrastruktur des Marktes - sprich: die Stromnetze - direkt kontrollieren können.
Deswegen fordere ich auch nicht eine Verstaatlichung der Atomkraftwerke. Dafür gäbe es zwar auch gute Gründe, aber zumindest die Perspektive der Marktgestaltung ist kein Argument dafür.
Eine Verstaatlichung der Stromnetze ist dagegen notwendig für einen funktionierenden Markt in der Stromversorgung.
Das sage ich zwar schon seit Jahren, aber gerade jetzt stehen die Zeichen dafür besonders günstig. Ein drastischer Ausbau der Netzleitungen mit Blick auf die zu erwartenden Verbrauchs- und Erzeugungsmuster von erneuerbaren Energien, sowie der Bau von Speicherkraftwerken im ganzen Land, ist schon lange überfällig. Gerade während einer Wirtschaftskrise bietet es sich an, dass der Staat massiv in Infrastruktur investiert um so die Nachfrage zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen.
Damit könnten wir die Krise abschütteln und gleichzeitig die Stromnetze reif fürs 21. Jahrhunderte machen. Aber dazu müsste die gängige Politik endlich die selbst auferlegten Denkblockaden abschütteln und wieder zu Visionen zurückfinden...
Eine Zukunft mit erneuerbaren Energien ist realistisch, wird hier die frohe Botschaft am lebenden Beispiel verkündet.
Erneuerbare Energien sind aber auch eine technische Herausforderung für die Stromnetze. Der Wind lässt sich nicht kontrollieren, und es ist eine Schande, wenn Windräder stillgelegt werden müssen, weil die Stromnetze nicht in der Lage sind, die Kapazitätsspitzen abzutransportieren, oder weil überschüssige Energie nicht gespeichert werden kann.
Diese Probleme zu lösen ist technisch machbar, erfordert aber natürlich signifikante Infrastrukturinvestitionen - und das ist das Problem. Die Infrastruktur steckt nämlich fest in den Händen der Betreiber der Kraftwerke von gestern. Investitionen in Infrastruktur, die erneuerbare Energien nützlicher machen würden, sind nicht in deren Interesse.
Und gerade die politischen Parteien, die immer am lautesten von Marktwirtschaft posaunen, zeigen in dieser für unsere Zukunft so zentralen Situation, dass sie von Marktwirtschaft eigentlich überhaupt nichts verstehen.
Was bedeutet Marktwirtschaft denn aus demokratischer Perspektive?
Demokratische Marktwirtschaft bedeutet, dass der Staat den Markt so gestaltet, dass die Teilnehmer darauf gegeneinander ausgespielt werden um dadurch das beste Ergebnis für die Bürger des Landes zu erzielen.
Damit das im Fall der Stromversorgung funktionieren kann, muss der Staat die physikalische Infrastruktur des Marktes - sprich: die Stromnetze - direkt kontrollieren können.
Deswegen fordere ich auch nicht eine Verstaatlichung der Atomkraftwerke. Dafür gäbe es zwar auch gute Gründe, aber zumindest die Perspektive der Marktgestaltung ist kein Argument dafür.
Eine Verstaatlichung der Stromnetze ist dagegen notwendig für einen funktionierenden Markt in der Stromversorgung.
Das sage ich zwar schon seit Jahren, aber gerade jetzt stehen die Zeichen dafür besonders günstig. Ein drastischer Ausbau der Netzleitungen mit Blick auf die zu erwartenden Verbrauchs- und Erzeugungsmuster von erneuerbaren Energien, sowie der Bau von Speicherkraftwerken im ganzen Land, ist schon lange überfällig. Gerade während einer Wirtschaftskrise bietet es sich an, dass der Staat massiv in Infrastruktur investiert um so die Nachfrage zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen.
Damit könnten wir die Krise abschütteln und gleichzeitig die Stromnetze reif fürs 21. Jahrhunderte machen. Aber dazu müsste die gängige Politik endlich die selbst auferlegten Denkblockaden abschütteln und wieder zu Visionen zurückfinden...
Montag, September 13, 2010
Joint Comedy
Ende letzter Woche fand in Fribourg (Vorsicht, Verwechslungsgefahr) der Schweizer Joint Operations Research Day statt, der trotz seines Namens höchstens mit Mathematik und Informatik, nicht aber mit Drogen zu tun hat. Organisiert von der Schweizer Vereinigung für Operations Research, die selbstverständlich stets auf die paritätische Sprachverteilung achtet, tummelten wir uns zwei Tage lang, eine dritte Sprache nutzend, auf bilingualem Terrain.
Auf dieser Zweitagung erzählten Forscher und Praktiker aus dem Gebiet des Operations Research über ihre Aktivitäten. Zum großen Teil war das eher unspannend, weil viele Vorträge einfach nur zum Xten Mal über eine IP- oder QP-Formulierung für Kaffeesatzleserei erzählten. Natürlich waren auch sehr schöne Vorträge zu genießen, zum Beispiel von Michael Bürgisser über eine Verbindung zwischen konvexer Optimierung und Machine Learning, genauer gesagt zum Hedge-Algorithmus, einer multiplikativen Update-Regel analog zum Weighted Majority Algorithmus.
Den Vogel abgeschossen haben zwei Figuren von IBM, die knallhart vor einem akademischen Publikum Vorträge mit "Management-Folien" durchgezogen haben. Vor dem Hintergrund von mit hunderten Worten vollgeschriebenen PowerPoint-Folien, die garantiert nie ein Mensch zuvor gelesen hatte, schwurbelten sie ihre Buzzwords durcheinander.
Das Einzige, was dabei an Botschaft durchgekommen ist, ist dass sie mit mathematischen Methoden die Einteilung ihrer Mitarbeiter auf Projekte verbessern wollen. Die inhumane Betrachtungsweise dieses legitimen Problems, die dabei durchschimmerte, übt eine gewisse soziopathische Faszination aus. Den Vortragenden ist das aber anscheinend gar nicht mehr aufgefallen, zumindest würde ich das aus der Frage- und Antwort-Session am Ende eines der Vorträge schließen. In solchen Momenten frage ich mich, ob ich nicht doch Soziologie hätte studieren sollen.
Legitim ist das geschilderte Problem insofern, als sich die beiden zwischen den Zeilen auch darüber beschwert haben, dass es für das Management schwierig ist zu wissen und zu verstehen, was IBM überhaupt weiß bzw. versteht. Wenn alle Vorträge auf Management-Ebene so aussehen wie diese Kostprobe, dann überrascht mich das wenig: solche Folien erstellt nur jemand, dem es nicht um Inhalte geht.
Insgesamt gehört dieses Phänomen wohl zu einer breiteren Strömung, die versucht, Intelligenz durch Business Intelligence zu ersetzen - so lange bis einer heult. Ich hoffe, dass dabei nicht zu viel kaputt geht.
Ich war jedenfalls sehr amüsiert angesichts dieser unfreiwillig selbstparodierenden Vorträge. Es lässt sich schwer in Worte fassen, wie bizarr diese Erfahrung war. Wer in Paderborn einmal eine Winfo-Vorlesung von Prof. Fischer besucht hat, kann sich vielleicht ein Bild davon machen.
Am Donnerstagabend waren wir zu einem opulenten Abendessen in Murten eingeladen, worüber wir erst hinterher murrten. Der Koch verstand zwar wohl sein Handwerk, nichts aber von gutem Geschmack. Ich würde jedenfalls jederzeit eine ordentliche Portion Rösti halbgekochten Aprikosen zum Fleisch vorziehen.
Ausgeglichen wurde das durch den soliden Riecher des Kochs der Uni-Mensa am Freitagmittag. Alles in allem war es eine sehr willkommene, amüsante, und nebenbei auch teils lehrreiche Ablenkung vom Alltag.
Auf dieser Zweitagung erzählten Forscher und Praktiker aus dem Gebiet des Operations Research über ihre Aktivitäten. Zum großen Teil war das eher unspannend, weil viele Vorträge einfach nur zum Xten Mal über eine IP- oder QP-Formulierung für Kaffeesatzleserei erzählten. Natürlich waren auch sehr schöne Vorträge zu genießen, zum Beispiel von Michael Bürgisser über eine Verbindung zwischen konvexer Optimierung und Machine Learning, genauer gesagt zum Hedge-Algorithmus, einer multiplikativen Update-Regel analog zum Weighted Majority Algorithmus.
Den Vogel abgeschossen haben zwei Figuren von IBM, die knallhart vor einem akademischen Publikum Vorträge mit "Management-Folien" durchgezogen haben. Vor dem Hintergrund von mit hunderten Worten vollgeschriebenen PowerPoint-Folien, die garantiert nie ein Mensch zuvor gelesen hatte, schwurbelten sie ihre Buzzwords durcheinander.
Das Einzige, was dabei an Botschaft durchgekommen ist, ist dass sie mit mathematischen Methoden die Einteilung ihrer Mitarbeiter auf Projekte verbessern wollen. Die inhumane Betrachtungsweise dieses legitimen Problems, die dabei durchschimmerte, übt eine gewisse soziopathische Faszination aus. Den Vortragenden ist das aber anscheinend gar nicht mehr aufgefallen, zumindest würde ich das aus der Frage- und Antwort-Session am Ende eines der Vorträge schließen. In solchen Momenten frage ich mich, ob ich nicht doch Soziologie hätte studieren sollen.
Legitim ist das geschilderte Problem insofern, als sich die beiden zwischen den Zeilen auch darüber beschwert haben, dass es für das Management schwierig ist zu wissen und zu verstehen, was IBM überhaupt weiß bzw. versteht. Wenn alle Vorträge auf Management-Ebene so aussehen wie diese Kostprobe, dann überrascht mich das wenig: solche Folien erstellt nur jemand, dem es nicht um Inhalte geht.
Insgesamt gehört dieses Phänomen wohl zu einer breiteren Strömung, die versucht, Intelligenz durch Business Intelligence zu ersetzen - so lange bis einer heult. Ich hoffe, dass dabei nicht zu viel kaputt geht.
Ich war jedenfalls sehr amüsiert angesichts dieser unfreiwillig selbstparodierenden Vorträge. Es lässt sich schwer in Worte fassen, wie bizarr diese Erfahrung war. Wer in Paderborn einmal eine Winfo-Vorlesung von Prof. Fischer besucht hat, kann sich vielleicht ein Bild davon machen.
Am Donnerstagabend waren wir zu einem opulenten Abendessen in Murten eingeladen, worüber wir erst hinterher murrten. Der Koch verstand zwar wohl sein Handwerk, nichts aber von gutem Geschmack. Ich würde jedenfalls jederzeit eine ordentliche Portion Rösti halbgekochten Aprikosen zum Fleisch vorziehen.
Ausgeglichen wurde das durch den soliden Riecher des Kochs der Uni-Mensa am Freitagmittag. Alles in allem war es eine sehr willkommene, amüsante, und nebenbei auch teils lehrreiche Ablenkung vom Alltag.
Freitag, September 10, 2010
Echte und imaginäre Schuldenprobleme
Ende letzter Woche geisterte eine Meldung des IWF durch die Medien, überwiegend vollkommen unreflektiert. Eine angenehme Ausnahme dazu war der Telepolis-Artikel zum Thema, dessen Autor über einige Ungereimtheiten in der Darstellung des IWF gestolpert ist.
Warum, kann man sich ja auch als Laie fragen, lebt Japan eigentlich schon seit langem mit Staatsschulden von weit über 100% des Bruttoinlandsproduktes ohne in Zahlungsverzug zu kommen, obwohl doch der IWF behauptet, 90% seien das tolerierbare Maximum? Und woher kommt überhaupt diese Grenze von 90%?
Die Modern Monetary Theory, mit der ich mich seit kurzem nebenbei beschäftige, scheint auch ein ziemlich vernichtendes Urteil über die Analysen des IWF auszusprechen, und also werde ich ein bißchen dazu ausschweifen, und wenn es nur ist, um jemanden hervorzulocken, der einen Fehler in der Logik finden kann. Vorsicht, es wird mal wieder länger.
Die IWF-Meldung ist so formuliert, als könne man Länder wie Irland, Griechenland oder Deutschland in eine Reihe mit Ländern wie die USA, Japan oder Island stellen. Laut Modern Monetary Theory kann das nur jemand behaupten, der die jeweiligen Geldsysteme nicht richtig versteht.
Die Länder der ersten Gruppe verwenden den Euro, den sie nicht kontrollieren. Die Regierungen dieser Länder unterliegen Budgetconstraints wie ein privater Haushalt und können daher insolvent werden. Diese Länder sind geldtechnisch eher mit US-Bundesstaaten oder mit den Haushalten der Kommunen zu vergleichen als mit souveränen Staaten.
Die Länder der zweiten Gruppe haben dagegen ihre eigene Währung, die sie jeweils monopolartig kontrollieren und die auf dem internationalen Markt frei gehandelt wird. Per Definition sind die Regierungen dieser Länder in ihrer eigenen Währung immer solvent, unabhängig davon, wie groß die Staatsschulden oder das Defizit sind. Wenn diese Regierungen ihre Schulden nicht begleichen würden, so wäre dies eine rein politische Entscheidung, die keinem grundlegenden Zwang unterliegen würde.
Das klingt nun erstmal unintuitiv, weil wir aus unserem persönlichen Alltag wissen, dass wir nicht beliebig solvent sind. Aber gelten die gleichen Grenzen auch für einen geldsouveränen Staat? Vielleicht sollten wir uns die Frage stellen, was Staatsschulden eigentlich sind. Dabei hilft zunächst eine andere Frage weiter: Was macht eigentlich eine Zentralbank in einem Fiat-Geldsystem?
Das ist eine interessante Frage. Sehen wir uns eine sehr typische Antwort an, die jemand auf Wikipedia geschrieben hat: Eine Zentralbank (auch Notenbank, Zentralnotenbank oder zentrale Notenbank) ist eine für die Geld- und Währungspolitik eines Währungsraums oder Staates zuständige Institution. In entwickelten Staaten ist das Hauptziel der Zentralbanken die Preisniveau- und Geldwertstabilität. Eine Zentralbank hält die Währungsreserve eines Währungsraumes, refinanziert Geschäftsbanken und den Staat. [...]
Diese Antwort gibt leider ein alles anderes als klares Bild von der Funktion einer Zentralbank. Dabei ist die Antwort im Grunde sehr banal. Als allererstes ist die Zentralbank eine Bank - und zwar die Bank, die "alles" Geld verwaltet. (Wenn die Familie aus meinem letzten Post zu diesem Thema ihre Coupons elektronisch in einer Tabellenkalkulation verwalten würde, dann wäre die Zentralbank die Institution, die die Tabelle verwaltet.)
Jede Bank hat ein Konto bei der Zentralbank.
Wenn die Regierung mir Geld gibt, dann erhöht die Zentralbank den Kontostand meiner Bank bei der Zentralbank um den entsprechenden Betrag und weist meine Bank an, ihre internen Tabellen auch entsprechend anzugleichen.
Wenn ich an die Regierung Steuern oder Gebühren bezahle, dann reduziert die Zentralbank den Kontostand meiner Bank bei der Zentralbank um den entsprechenden Betrag und weist meine Bank an, ihre internen Tabellen auch entsprechend anzugleichen.
Wenn ich Geld an Frau XX überweise, deren Konto bei der gleichen Bank liegt, dann passt die Bank ihre internen Tabellen an und auf Ebene der Zentralbank passiert nichts.
Wenn ich Geld an Herrn XY überweise, dessen Konto bei einer anderen Bank liegt, dann überweist meine Bank den entsprechenden Betrag von ihrem Konto bei der Zentralbank auf das Zentralbank-Konto der Bank von Herrn XY, und beide Banken passen ihre internen Tabellen an.
Natürlich ist das eine Vereinfachung; aus Praxis- und Buchhaltungsgründen können irgendwo mehr Schritte versteckt sein. Zum Beispiel können Banken ihre Geschäfte untereinander bündeln, und lediglich einmal am Tag gegenrechnen, was sie sich schulden. So fällt auf Zentralbankebene weniger Verwaltungsaufwand durch Überweisungen an. Aber funktional passiert alles genau wie beschrieben, so weit es für das Zusammenspiel von öffentlichem (Regierungs-)Sektor und privatem Sektor im Hinblick auf Geld relevant ist.
Beobachtung: Die Regierung benötigt kein Konto bei der Zentralbank. Dass geldsouveräne Regierungen in der Praxis trotzdem ein Konto bei der Zentralbank haben, hat wohl primär historische und politische Gründe, wobei es sicher auch zur Buchhaltung praktisch sein kann. Zwingend ist es jedenfalls nicht.
Beobachtung: Geld kann die Zentralbank niemals verlassen. Alles Geld, das jemals von der Regierung (bzw. der Zentralbank) in Umlauf gebracht wurde, bleibt immer auf einem Konto bei der Zentralbank liegen, bis es wieder von der Regierung (bzw. der Zentralbank) eingezogen wird.
Was ist also das "Geld", das auf unseren privaten Konten liegt? Es ist sekundäres Geld. Konkret ist es eine Verpflichtung der Bank uns gegenüber. Die Bank garantiert uns, dass wir mit diesem "Geld" so verfahren können, als wäre es Geld ohne Anführungszeichen.
Das Faszinierende dabei ist, dass praktisch alles "Geld", das im Umlauf ist, in Wirklichkeit sekundäres Geld ist. Die Folge ist, dass es Definitionen von Geldmenge praktisch wie Sand am Meer gibt. Eine gute Faustregel ist daher: Wenn jemand von "Geldmenge" redet, sollte man vorsichtig sein. Mit nicht vernachlässigbarer Wahrscheinlichkeit weiß derjenige selbst nicht genau, wovon er eigentlich redet, und man sollte seine Behauptungen kritisch darauf prüfen, ob sie einer logischen Untersuchung standhalten, und ob nicht womöglich fehlerhafte Annahmen zugrundeliegen.
Diese Warnung gilt übrigens auch für mich selbst, da die verschiedenen Geldmengenbegriffe für mich noch ziemlich schlüpfrig sind. Zum Glück scheinen sie für das grundlegende Verständnis nicht zu wichtig zu sein. Aber zurück zum Thema.
Wie gesagt kann nur der Staat Geld in Zentralbankkonten erzeugen. Banken erzeugen aber ständig sekundäres Geld, indem sie Kredite an Privatpersonen und -firmen vergeben. Die Summe aller Kontostände bei der Bank ist dadurch regelmässig größer als der Kontostand der Bank selbst bei der Zentralbank. Natürlich wird die Bank, wenn das System funktioniert, durch die Bankenaufsicht und entsprechende Buchhaltungsvorschriften daran gehindert, unseriös zu handeln und im Extremfall Schneeballsysteme zu produzieren. Wie man sieht kann das durchaus schiefgehen, aber darum geht es hier nicht.
Der Punkt ist, dass der Kontostand einer Bank bei der Zentralbank auch, wenn alles nach Plan funktioniert, regelmässig ins Minus rutschen kann (was nicht unbedingt bedeutet, dass die Bilanz der Bank negativ ist!).
Der Staat sieht das nicht gerne. Wenn er Banken regelmässig einfach so erlauben würde, ihr Konto zu überziehen, würde er de facto sein Geldmonopol aufgeben. Also verbietet er den Banken, ihren Kontostand bei der Zentralbank unter einen bestimmten Betrag fallen zu lassen.
Und jetzt kommen wir endlich auf die "klassische" Antwort nach der Funktion der Zentralbank zu sprechen!
Gegen entsprechende Sicherheiten können sich Banken bei der Zentralbank kurzfristig Geld leihen zu einem Zinssatz, der nach politischen Erwägungen von der Zentralbank bestimmt wird. Die Fed nennt diesen den Diskontsatz. Bei der EZB heißt er Spitzenrefinanzierungssatz.
Liegt eine Bank mit ihrem Zentralbankkonto im Plus, so gibt es bei manchen Zentralbanken dafür Guthabenzinsen. Bei der EZB nennt sich das Einlagefazilität. Auch dieser Zinssatz wird nach politischen Erwägung von der Zentralbank bestimmt, und bei vielen Zentralbanken liegt er bei 0%.
Damit bietet sich eine Geschäftsgelegenheit für die Banken. Anstatt von der Zentralbank Geld zu leihen, kann eine Bank versuchen, bei einer anderen Bank zu leihen, deren Zentralbankkonto gut gefüllt ist. So entsteht ein für beide Banken profitables Geschäft, da beide einen für ihre jeweilige Situation günstigeren Zinssatz heraushandeln können. Das Ganze nennt sich dann Interbankenmarkt, auf dem sich der (Overnight-)Zinssatz für Banken herausbildet. Politisches Ziel der Zentralbanken ist in der heutigen Praxis, diesen Zinssatz zu kontrollieren.
Zurück zum Thema: Was hat diese Geschichte eigentlich mit Staatsschulden zu tun?
Wie wir letztes Mal gesehen haben ist es in der Regel - solange der private Sektor sparen will - vernünftige Politik, wenn die Regierung mehr Geld ausgibt als sie durch Steuern wieder einzieht. Zwangsläufige Folge ist, dass die Menge an Geld, die auf Zentralbankkonten liegt, steigt - ich erinnere daran, dass Geld aus Zentralbankkonten nur verschwinden kann, indem die Regierung es einzieht.
Langfristig wird dann also jede Bank einen ordentlichen Überschuss auf ihrem Zentralbankkonto liegen haben. Wenn sich aber keine Bank mehr Geld leihen muss, schläft der Interbankenmarkt ein und der Zinssatz für Banken sinkt praktisch auf 0%, oder was auch immer der Zinssatz ist, den die Zentralbank für Guthaben ausgibt.
Man kann darüber streiten, ob das schlimm ist. In den Zentralbanken sitzen aber nunmal überwiegend Monetaristen, die glauben, dass sich eine ganze Volkswirtschaft effektiv steuern lässt, indem man einen einzigen Parameter - nämlich den Zinssatz für Banken - kontrolliert. Auf mich persönlich wirkt das eher wie ein Glaubensbekenntnis (damit meine ich das "effektiv"; dass sich der Zinssatz auf die Wirtschaft auswirkt, ist unbestritten). Jedenfalls wollen sie diese Kontrolle nicht verlieren, sie aber nur indirekt ausüben.
Wenn man diese Prämissen bzw. diese politische Entscheidung akzeptiert, dann ist die logische Schlussfolgerung, dass die Zentralbankkonten geleert und dadurch der Interbankenmarkt aktiviert werden muss. Und wie macht man das? Mit Staatsschulden!
Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen, weil es dem landläufigen Verständnis von Staatsschulden so krass widerspricht.
Die Zentralbank will die Zentralbankkonten im Schnitt möglichst leer halten, weil dadurch ein Teil der Banken gezwungen wird, kurzfristig Geld zu leihen. Das belebt den Interbankenmarkt, so dass sich ein positiver Zinssatz für Banken herausbildet.
Aber wir haben gelernt, dass nur die Regierung Geld aus Zentralbankkonten entfernen kann. Mit Steuern sollte sie das in diesem Fall nicht machen, weil das mit den Sparzielen des privaten Sektors kollidieren und dadurch die Wirtschaft abwürgen und Arbeitslosigkeit erzeugen würde (siehe mein Beispiel zur Entstehung von Arbeitslosigkeit hier). Also verkauft die Regierung stattdessen Wertpapiere, und diese Wertpapiere werden Staatsschulden genannt.
Wenn die Regierung ein solches Wertpapier verkauft, dann reduziert sie den Zentralbankkontostand der Bank des Käufers um den entsprechenden Betrag und gibt ihm im Gegenzug das Papier.
Wenn ein solches Wertpapier ausläuft, schreibt die Regierung den entsprechenden Betrag dem Zentralbankkonto der Bank des Besitzers gut.
Beobachtung: Staatsschulden haben nichts damit zu tun, ob die Regierung Geld ausgeben kann oder nicht.
Beobachtung: Staatsschulden sind nicht Fiskalpolitik, sondern Geldpolitik.
Ein geldsouveräner Staat kann seine Schulden also immer begleichen, woran man sieht, dass die Schuldendebatte bezüglich solcher Länder ziemlich meschugge ist.
Heißt das, es gibt keine Probleme? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren.
Solange die Staatsschulden nur vom privaten Sektor im Inland gehalten werden, sind Staatsschulden wohl wirklich eher ein gutes als ein schlechtes Zeichen. Schließlich entsprechen Staatsschulden, wie wir oben gelernt haben, einfach dem Sparvermögen der eigenen Bürger, und das Staatsdefizit entspricht ihren Sparzielen.
Sollten sich die Sparziele der Bürger irgendwann ändern, müsste die Regierung darauf natürlich reagieren und womöglich irgendwann mehr Steuern einziehen als Staatsausgaben getätigt werden, wenn sie eine Preissteigerung verhindern will. Aber auch das würde am Ende nur bedeuten, dass sich die Bürger eben mehr reale Werte leisten und den daraus folgenden Lebensstandard genießen. Da kann man wohl kaum dagegen sein. (Ungleiche Verteilung von Sparvermögen sind ein davon unabhängiges Thema.)
Wenn ein großer Teil der Staatsschulden vom Ausland gehalten wird, kann das Thema womöglich eine außenpolitische Dimension gewinnen. Darüber muss ich auch noch nachdenken. Wenn das Ausland große Mengen der Währung loswerden will, würde sich der resultierende Effekt aber vermutlich durch eine entsprechende Änderung der Wechselkurse automatisch selbst dämpfen.
Eins ist in jedem Fall klar. Wenn die Regierung einfach nur versucht, ihr Defizit zu reduzieren, dann wird darunter der private Sektor im Inland leiden, bevor sich die Maßnahmen auf die vom Ausland gehaltenen Staatsschulden auswirken. Das bedeutet, dass der eigenen Wirtschaft durch Arbeitslosigkeit Know-How verlorengeht, und das Land insgesamt für zukünftige Probleme schlechter gerüstet sein wird.
Wer sich von Defiziten und Staatsschulden blenden lässt und darüber die reale Welt vergisst, kann am Ende nur verlieren.
Was folgt daraus für die Eurozone?
Gute Frage. Für die Staaten der Eurozone gilt nichts von dem, was ich oben geschrieben habe, weil sie tatsächlich wie ein privater Haushalt wirtschaften müssen. Durch den Eintritt in die Eurozone haben wir freiwillig volkswirtschaftlichen Handlungsspielraum aufgegeben, ohne auf Ebene der Eurozone eine Institution zu schaffen, die das ausgleichen würde. Das ist ein ernstes Problem.
Grundsätzlich gibt es zwei naheliegende Möglichkeiten, die volkswirtschaftliche Handlungsfähigkeit wieder herzustellen: erstens die Auflösung der Eurozone; zweitens die Einführung einer Wirtschaftsregierung für die Eurozone.
Beide Varianten sind aus Sicht von Modern Monetary Theory tragbar, wenn die jeweiligen souveränen Regierungen dann auch wirklich verstehen, wie ihr Geldsystem funktioniert. Ich persönlich würde - aus politischen Erwägungen - die zweite Variante bevorzugen, und zwar so, dass der Eurozonen-Haushalt ausschließlich von einem auf die Abgeordneten der Euro-Länder reduzierten Europäischen Parlament kontrolliert wird - wie es sich bei einer Demokratie gehört.
Praktisch stehen dieser Lösung natürlich jede Menge mit kleinen Karos bemalte Hürden im Weg. Warren Mosler, einer der Vertreter von Modern Monetary Theory, schlägt zumindest eine drastische, aber überlegenswerte Übergangslösung vor.
Aber das ist eine andere Geschichte, über die ich vielleicht ein andermal schreiben werde.
Warum, kann man sich ja auch als Laie fragen, lebt Japan eigentlich schon seit langem mit Staatsschulden von weit über 100% des Bruttoinlandsproduktes ohne in Zahlungsverzug zu kommen, obwohl doch der IWF behauptet, 90% seien das tolerierbare Maximum? Und woher kommt überhaupt diese Grenze von 90%?
Die Modern Monetary Theory, mit der ich mich seit kurzem nebenbei beschäftige, scheint auch ein ziemlich vernichtendes Urteil über die Analysen des IWF auszusprechen, und also werde ich ein bißchen dazu ausschweifen, und wenn es nur ist, um jemanden hervorzulocken, der einen Fehler in der Logik finden kann. Vorsicht, es wird mal wieder länger.
Die IWF-Meldung ist so formuliert, als könne man Länder wie Irland, Griechenland oder Deutschland in eine Reihe mit Ländern wie die USA, Japan oder Island stellen. Laut Modern Monetary Theory kann das nur jemand behaupten, der die jeweiligen Geldsysteme nicht richtig versteht.
Die Länder der ersten Gruppe verwenden den Euro, den sie nicht kontrollieren. Die Regierungen dieser Länder unterliegen Budgetconstraints wie ein privater Haushalt und können daher insolvent werden. Diese Länder sind geldtechnisch eher mit US-Bundesstaaten oder mit den Haushalten der Kommunen zu vergleichen als mit souveränen Staaten.
Die Länder der zweiten Gruppe haben dagegen ihre eigene Währung, die sie jeweils monopolartig kontrollieren und die auf dem internationalen Markt frei gehandelt wird. Per Definition sind die Regierungen dieser Länder in ihrer eigenen Währung immer solvent, unabhängig davon, wie groß die Staatsschulden oder das Defizit sind. Wenn diese Regierungen ihre Schulden nicht begleichen würden, so wäre dies eine rein politische Entscheidung, die keinem grundlegenden Zwang unterliegen würde.
Das klingt nun erstmal unintuitiv, weil wir aus unserem persönlichen Alltag wissen, dass wir nicht beliebig solvent sind. Aber gelten die gleichen Grenzen auch für einen geldsouveränen Staat? Vielleicht sollten wir uns die Frage stellen, was Staatsschulden eigentlich sind. Dabei hilft zunächst eine andere Frage weiter: Was macht eigentlich eine Zentralbank in einem Fiat-Geldsystem?
Das ist eine interessante Frage. Sehen wir uns eine sehr typische Antwort an, die jemand auf Wikipedia geschrieben hat: Eine Zentralbank (auch Notenbank, Zentralnotenbank oder zentrale Notenbank) ist eine für die Geld- und Währungspolitik eines Währungsraums oder Staates zuständige Institution. In entwickelten Staaten ist das Hauptziel der Zentralbanken die Preisniveau- und Geldwertstabilität. Eine Zentralbank hält die Währungsreserve eines Währungsraumes, refinanziert Geschäftsbanken und den Staat. [...]
Diese Antwort gibt leider ein alles anderes als klares Bild von der Funktion einer Zentralbank. Dabei ist die Antwort im Grunde sehr banal. Als allererstes ist die Zentralbank eine Bank - und zwar die Bank, die "alles" Geld verwaltet. (Wenn die Familie aus meinem letzten Post zu diesem Thema ihre Coupons elektronisch in einer Tabellenkalkulation verwalten würde, dann wäre die Zentralbank die Institution, die die Tabelle verwaltet.)
Jede Bank hat ein Konto bei der Zentralbank.
Wenn die Regierung mir Geld gibt, dann erhöht die Zentralbank den Kontostand meiner Bank bei der Zentralbank um den entsprechenden Betrag und weist meine Bank an, ihre internen Tabellen auch entsprechend anzugleichen.
Wenn ich an die Regierung Steuern oder Gebühren bezahle, dann reduziert die Zentralbank den Kontostand meiner Bank bei der Zentralbank um den entsprechenden Betrag und weist meine Bank an, ihre internen Tabellen auch entsprechend anzugleichen.
Wenn ich Geld an Frau XX überweise, deren Konto bei der gleichen Bank liegt, dann passt die Bank ihre internen Tabellen an und auf Ebene der Zentralbank passiert nichts.
Wenn ich Geld an Herrn XY überweise, dessen Konto bei einer anderen Bank liegt, dann überweist meine Bank den entsprechenden Betrag von ihrem Konto bei der Zentralbank auf das Zentralbank-Konto der Bank von Herrn XY, und beide Banken passen ihre internen Tabellen an.
Natürlich ist das eine Vereinfachung; aus Praxis- und Buchhaltungsgründen können irgendwo mehr Schritte versteckt sein. Zum Beispiel können Banken ihre Geschäfte untereinander bündeln, und lediglich einmal am Tag gegenrechnen, was sie sich schulden. So fällt auf Zentralbankebene weniger Verwaltungsaufwand durch Überweisungen an. Aber funktional passiert alles genau wie beschrieben, so weit es für das Zusammenspiel von öffentlichem (Regierungs-)Sektor und privatem Sektor im Hinblick auf Geld relevant ist.
Beobachtung: Die Regierung benötigt kein Konto bei der Zentralbank. Dass geldsouveräne Regierungen in der Praxis trotzdem ein Konto bei der Zentralbank haben, hat wohl primär historische und politische Gründe, wobei es sicher auch zur Buchhaltung praktisch sein kann. Zwingend ist es jedenfalls nicht.
Beobachtung: Geld kann die Zentralbank niemals verlassen. Alles Geld, das jemals von der Regierung (bzw. der Zentralbank) in Umlauf gebracht wurde, bleibt immer auf einem Konto bei der Zentralbank liegen, bis es wieder von der Regierung (bzw. der Zentralbank) eingezogen wird.
Was ist also das "Geld", das auf unseren privaten Konten liegt? Es ist sekundäres Geld. Konkret ist es eine Verpflichtung der Bank uns gegenüber. Die Bank garantiert uns, dass wir mit diesem "Geld" so verfahren können, als wäre es Geld ohne Anführungszeichen.
Das Faszinierende dabei ist, dass praktisch alles "Geld", das im Umlauf ist, in Wirklichkeit sekundäres Geld ist. Die Folge ist, dass es Definitionen von Geldmenge praktisch wie Sand am Meer gibt. Eine gute Faustregel ist daher: Wenn jemand von "Geldmenge" redet, sollte man vorsichtig sein. Mit nicht vernachlässigbarer Wahrscheinlichkeit weiß derjenige selbst nicht genau, wovon er eigentlich redet, und man sollte seine Behauptungen kritisch darauf prüfen, ob sie einer logischen Untersuchung standhalten, und ob nicht womöglich fehlerhafte Annahmen zugrundeliegen.
Diese Warnung gilt übrigens auch für mich selbst, da die verschiedenen Geldmengenbegriffe für mich noch ziemlich schlüpfrig sind. Zum Glück scheinen sie für das grundlegende Verständnis nicht zu wichtig zu sein. Aber zurück zum Thema.
Wie gesagt kann nur der Staat Geld in Zentralbankkonten erzeugen. Banken erzeugen aber ständig sekundäres Geld, indem sie Kredite an Privatpersonen und -firmen vergeben. Die Summe aller Kontostände bei der Bank ist dadurch regelmässig größer als der Kontostand der Bank selbst bei der Zentralbank. Natürlich wird die Bank, wenn das System funktioniert, durch die Bankenaufsicht und entsprechende Buchhaltungsvorschriften daran gehindert, unseriös zu handeln und im Extremfall Schneeballsysteme zu produzieren. Wie man sieht kann das durchaus schiefgehen, aber darum geht es hier nicht.
Der Punkt ist, dass der Kontostand einer Bank bei der Zentralbank auch, wenn alles nach Plan funktioniert, regelmässig ins Minus rutschen kann (was nicht unbedingt bedeutet, dass die Bilanz der Bank negativ ist!).
Der Staat sieht das nicht gerne. Wenn er Banken regelmässig einfach so erlauben würde, ihr Konto zu überziehen, würde er de facto sein Geldmonopol aufgeben. Also verbietet er den Banken, ihren Kontostand bei der Zentralbank unter einen bestimmten Betrag fallen zu lassen.
Und jetzt kommen wir endlich auf die "klassische" Antwort nach der Funktion der Zentralbank zu sprechen!
Gegen entsprechende Sicherheiten können sich Banken bei der Zentralbank kurzfristig Geld leihen zu einem Zinssatz, der nach politischen Erwägungen von der Zentralbank bestimmt wird. Die Fed nennt diesen den Diskontsatz. Bei der EZB heißt er Spitzenrefinanzierungssatz.
Liegt eine Bank mit ihrem Zentralbankkonto im Plus, so gibt es bei manchen Zentralbanken dafür Guthabenzinsen. Bei der EZB nennt sich das Einlagefazilität. Auch dieser Zinssatz wird nach politischen Erwägung von der Zentralbank bestimmt, und bei vielen Zentralbanken liegt er bei 0%.
Damit bietet sich eine Geschäftsgelegenheit für die Banken. Anstatt von der Zentralbank Geld zu leihen, kann eine Bank versuchen, bei einer anderen Bank zu leihen, deren Zentralbankkonto gut gefüllt ist. So entsteht ein für beide Banken profitables Geschäft, da beide einen für ihre jeweilige Situation günstigeren Zinssatz heraushandeln können. Das Ganze nennt sich dann Interbankenmarkt, auf dem sich der (Overnight-)Zinssatz für Banken herausbildet. Politisches Ziel der Zentralbanken ist in der heutigen Praxis, diesen Zinssatz zu kontrollieren.
Zurück zum Thema: Was hat diese Geschichte eigentlich mit Staatsschulden zu tun?
Wie wir letztes Mal gesehen haben ist es in der Regel - solange der private Sektor sparen will - vernünftige Politik, wenn die Regierung mehr Geld ausgibt als sie durch Steuern wieder einzieht. Zwangsläufige Folge ist, dass die Menge an Geld, die auf Zentralbankkonten liegt, steigt - ich erinnere daran, dass Geld aus Zentralbankkonten nur verschwinden kann, indem die Regierung es einzieht.
Langfristig wird dann also jede Bank einen ordentlichen Überschuss auf ihrem Zentralbankkonto liegen haben. Wenn sich aber keine Bank mehr Geld leihen muss, schläft der Interbankenmarkt ein und der Zinssatz für Banken sinkt praktisch auf 0%, oder was auch immer der Zinssatz ist, den die Zentralbank für Guthaben ausgibt.
Man kann darüber streiten, ob das schlimm ist. In den Zentralbanken sitzen aber nunmal überwiegend Monetaristen, die glauben, dass sich eine ganze Volkswirtschaft effektiv steuern lässt, indem man einen einzigen Parameter - nämlich den Zinssatz für Banken - kontrolliert. Auf mich persönlich wirkt das eher wie ein Glaubensbekenntnis (damit meine ich das "effektiv"; dass sich der Zinssatz auf die Wirtschaft auswirkt, ist unbestritten). Jedenfalls wollen sie diese Kontrolle nicht verlieren, sie aber nur indirekt ausüben.
Wenn man diese Prämissen bzw. diese politische Entscheidung akzeptiert, dann ist die logische Schlussfolgerung, dass die Zentralbankkonten geleert und dadurch der Interbankenmarkt aktiviert werden muss. Und wie macht man das? Mit Staatsschulden!
Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen, weil es dem landläufigen Verständnis von Staatsschulden so krass widerspricht.
Die Zentralbank will die Zentralbankkonten im Schnitt möglichst leer halten, weil dadurch ein Teil der Banken gezwungen wird, kurzfristig Geld zu leihen. Das belebt den Interbankenmarkt, so dass sich ein positiver Zinssatz für Banken herausbildet.
Aber wir haben gelernt, dass nur die Regierung Geld aus Zentralbankkonten entfernen kann. Mit Steuern sollte sie das in diesem Fall nicht machen, weil das mit den Sparzielen des privaten Sektors kollidieren und dadurch die Wirtschaft abwürgen und Arbeitslosigkeit erzeugen würde (siehe mein Beispiel zur Entstehung von Arbeitslosigkeit hier). Also verkauft die Regierung stattdessen Wertpapiere, und diese Wertpapiere werden Staatsschulden genannt.
Wenn die Regierung ein solches Wertpapier verkauft, dann reduziert sie den Zentralbankkontostand der Bank des Käufers um den entsprechenden Betrag und gibt ihm im Gegenzug das Papier.
Wenn ein solches Wertpapier ausläuft, schreibt die Regierung den entsprechenden Betrag dem Zentralbankkonto der Bank des Besitzers gut.
Beobachtung: Staatsschulden haben nichts damit zu tun, ob die Regierung Geld ausgeben kann oder nicht.
Beobachtung: Staatsschulden sind nicht Fiskalpolitik, sondern Geldpolitik.
Ein geldsouveräner Staat kann seine Schulden also immer begleichen, woran man sieht, dass die Schuldendebatte bezüglich solcher Länder ziemlich meschugge ist.
Heißt das, es gibt keine Probleme? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren.
Solange die Staatsschulden nur vom privaten Sektor im Inland gehalten werden, sind Staatsschulden wohl wirklich eher ein gutes als ein schlechtes Zeichen. Schließlich entsprechen Staatsschulden, wie wir oben gelernt haben, einfach dem Sparvermögen der eigenen Bürger, und das Staatsdefizit entspricht ihren Sparzielen.
Sollten sich die Sparziele der Bürger irgendwann ändern, müsste die Regierung darauf natürlich reagieren und womöglich irgendwann mehr Steuern einziehen als Staatsausgaben getätigt werden, wenn sie eine Preissteigerung verhindern will. Aber auch das würde am Ende nur bedeuten, dass sich die Bürger eben mehr reale Werte leisten und den daraus folgenden Lebensstandard genießen. Da kann man wohl kaum dagegen sein. (Ungleiche Verteilung von Sparvermögen sind ein davon unabhängiges Thema.)
Wenn ein großer Teil der Staatsschulden vom Ausland gehalten wird, kann das Thema womöglich eine außenpolitische Dimension gewinnen. Darüber muss ich auch noch nachdenken. Wenn das Ausland große Mengen der Währung loswerden will, würde sich der resultierende Effekt aber vermutlich durch eine entsprechende Änderung der Wechselkurse automatisch selbst dämpfen.
Eins ist in jedem Fall klar. Wenn die Regierung einfach nur versucht, ihr Defizit zu reduzieren, dann wird darunter der private Sektor im Inland leiden, bevor sich die Maßnahmen auf die vom Ausland gehaltenen Staatsschulden auswirken. Das bedeutet, dass der eigenen Wirtschaft durch Arbeitslosigkeit Know-How verlorengeht, und das Land insgesamt für zukünftige Probleme schlechter gerüstet sein wird.
Wer sich von Defiziten und Staatsschulden blenden lässt und darüber die reale Welt vergisst, kann am Ende nur verlieren.
Was folgt daraus für die Eurozone?
Gute Frage. Für die Staaten der Eurozone gilt nichts von dem, was ich oben geschrieben habe, weil sie tatsächlich wie ein privater Haushalt wirtschaften müssen. Durch den Eintritt in die Eurozone haben wir freiwillig volkswirtschaftlichen Handlungsspielraum aufgegeben, ohne auf Ebene der Eurozone eine Institution zu schaffen, die das ausgleichen würde. Das ist ein ernstes Problem.
Grundsätzlich gibt es zwei naheliegende Möglichkeiten, die volkswirtschaftliche Handlungsfähigkeit wieder herzustellen: erstens die Auflösung der Eurozone; zweitens die Einführung einer Wirtschaftsregierung für die Eurozone.
Beide Varianten sind aus Sicht von Modern Monetary Theory tragbar, wenn die jeweiligen souveränen Regierungen dann auch wirklich verstehen, wie ihr Geldsystem funktioniert. Ich persönlich würde - aus politischen Erwägungen - die zweite Variante bevorzugen, und zwar so, dass der Eurozonen-Haushalt ausschließlich von einem auf die Abgeordneten der Euro-Länder reduzierten Europäischen Parlament kontrolliert wird - wie es sich bei einer Demokratie gehört.
Praktisch stehen dieser Lösung natürlich jede Menge mit kleinen Karos bemalte Hürden im Weg. Warren Mosler, einer der Vertreter von Modern Monetary Theory, schlägt zumindest eine drastische, aber überlegenswerte Übergangslösung vor.
Aber das ist eine andere Geschichte, über die ich vielleicht ein andermal schreiben werde.
Montag, September 06, 2010
Kabarett schreibt sich gerne selbst
Aus der Kategorie "Unglaubliches, das unkommentiert in der Zeitung steht" heute auf Seite 6 der Süddeutschen ein Artikel über weltweite Versorgung mit sauberem Wasser (längere Online-Version). Hier die Stelle, bei der ich nur noch die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen habe:
Ein Pilotprojekt sind zum Beispiel die 100 elektronischen Wasserzapfstellen in Uganda, die die GTZ im Auftrag der Bundesregierung aufgebaut hat. Mit einer aufladbaren Chipkarte können die Bewohner von Kampala an briefkastenartigen Stationen öffentliche Wasserhähne entsperren und sich sauberes Wasser zapfen.
Wasser ist ein überlebenswichtiges Gut - und das Beste, was der GTZ einfällt ist, Pumpen aufzustellen, die an elektronische Bezahlsysteme gekoppelt sind? In einem Entwicklungsland? Das ist einfach nur pervers.
Gut, auch wir bezahlen für Wasser. Aber in Deutschland liegt der Wasserpreis praktisch überall unter 2 Euro pro Kubikmeter, das sind 0,2 Cent pro Liter. Welcher Schwachkopf kommt auf die Idee, bei einem so wichtigen Gut wie Trinkwasser den Bezahlaspekt so ins Zentrum zu stellen?
So richtig bizarr ist das Detail mit der Chipkarte. Bei so etwas frage ich mich immer, ob das nicht einfach nur eine Form moderner Kolonialismus ist. Unter dem Vorwand bei der Trinkwasserversorgung zu helfen, überredet man die lokale Regierung, ein überteuertes, unangemessenes, vollkommen unnötiges Chipkartensystem bei einem deutschen Hersteller zu kaufen. Dann kann man sich selbst als Helfer stilisieren und die Menschen gleichzeitig noch richtig schön ausbeuten. Gleichzeitig verarscht man die Menschen in Deutschland, indem man das für Entwicklungshilfe bestimmte Geld in die Kassen der heimischen Industrie lenkt.
Ein Pilotprojekt sind zum Beispiel die 100 elektronischen Wasserzapfstellen in Uganda, die die GTZ im Auftrag der Bundesregierung aufgebaut hat. Mit einer aufladbaren Chipkarte können die Bewohner von Kampala an briefkastenartigen Stationen öffentliche Wasserhähne entsperren und sich sauberes Wasser zapfen.
Wasser ist ein überlebenswichtiges Gut - und das Beste, was der GTZ einfällt ist, Pumpen aufzustellen, die an elektronische Bezahlsysteme gekoppelt sind? In einem Entwicklungsland? Das ist einfach nur pervers.
Gut, auch wir bezahlen für Wasser. Aber in Deutschland liegt der Wasserpreis praktisch überall unter 2 Euro pro Kubikmeter, das sind 0,2 Cent pro Liter. Welcher Schwachkopf kommt auf die Idee, bei einem so wichtigen Gut wie Trinkwasser den Bezahlaspekt so ins Zentrum zu stellen?
So richtig bizarr ist das Detail mit der Chipkarte. Bei so etwas frage ich mich immer, ob das nicht einfach nur eine Form moderner Kolonialismus ist. Unter dem Vorwand bei der Trinkwasserversorgung zu helfen, überredet man die lokale Regierung, ein überteuertes, unangemessenes, vollkommen unnötiges Chipkartensystem bei einem deutschen Hersteller zu kaufen. Dann kann man sich selbst als Helfer stilisieren und die Menschen gleichzeitig noch richtig schön ausbeuten. Gleichzeitig verarscht man die Menschen in Deutschland, indem man das für Entwicklungshilfe bestimmte Geld in die Kassen der heimischen Industrie lenkt.
Donnerstag, September 02, 2010
Modern Monetary Theory
Wie funktioniert eigentlich unser modernes Geldsystem?
Es gab einmal eine Zeit, in der Regierungen ihre Währungen an andere Dinge gekoppelt haben: an Gold, oder an andere Währungen. Das ist heutzutage in der Regel nicht mehr der Fall (wobei man bei der Betrachtung des Euro vorsichtig sein muss): Regierungen haben Währungen eingeführt, in denen sie beliebig Geld erzeugen und vernichten können, und diese Währungen werden international frei gehandelt. Wie funktioniert das System also?
Der erstaunlich blogwütige Bill Mitchell erklärt das ungefähr wie folgt, wobei ich seine Geschichte entsprechend meines Verständnisses des Themas etwas modifiziert habe. Stellen wir uns eine ganz typische Familie vor, bestehend aus Eltern und fünf Kindern, die wir kanonischerweise Alice, Bob, Charlie, David und Eva nennen. Der Kinderreichtum ist vielleicht eher untypisch, aber wie üblich haben die Kinder nicht unbedingt Lust, im Haushalt mitzuhelfen.
Die Eltern sind Volkswirtschaftler und wollen ihren Kindern das Prinzip von Geld anschaulich näher bringen und damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Also führen sie die Regel ein, dass die Kinder für erledigte Arbeiten (Rasenmähen, Staubsaugen, Wäsche aufhängen, was auch immer) Familien-Coupons erhalten - das sind einfach bedruckte Papierstücke. An dieser Stelle frage ich mich, was wohl schlimmer sein mag: VWLer als Eltern, oder Mathematiker als Eltern. Aber die Kinder fragen sich wohl eher, was das ganze soll. Wieso sollten sie wertlose Papierstücke sammeln?
Den Eltern ist das natürlich auch klar. Also kündigen sie an, dass jedes Kind am Ende jeder Woche 10 Coupons an die Eltern bezahlen muss, ansonsten kriegt es Hausarrest. Ferner beschließen die Eltern, die an einer durchschnittlichen deutschen Universität gelernt haben, dass sie einen ausgeglichen Haushalt führen müssen, dass sie pro Woche höchstens 50 Coupons ausgeben werden, die den 50 von den Kindern zu zahlenden Coupons gegenüber stehen.
Nun sind die Kinder natürlich motiviert. Jedes Kind arbeitet für seine 10 Coupons, die am Ende der Woche zurück an die Eltern fließen.
Beobachtung #1: Das Ganze ist eine leicht durchschaubare Parabel mit den Eltern als Regierung, den Kindern als privatem Sektor und Coupons als Währung. Die 10 Coupons, die jedes Kind pro Woche zahlen muss, sind Steuern.
Beobachtung #2: Die Coupons erhalten ihren Wert dadurch, dass die Eltern Steuern erheben. Genauso erhalten "echte" Währungen ihren Wert dadurch, dass sie das einzige gültige Zahlungsmittel für Steuerschulden sind.
Die Kinder erkennen natürlich sehr schnell, dass sie auch untereinander tauschen können: ein paar Coupons gegen Süßigkeiten, zum Beispiel.
Beobachtung #3: Sobald eine Währung einen Wert hat, wird sie zu einem praktischen Tauschmittel für allgemeinen Handel. Dadurch entsteht leicht der Irrtum, dass nicht Steuern sondern etwas anderes die Quelle des Wertes der Währung sind. Das ist aber, wie gesagt, ein Irrtum.
Das Ganze funktioniert ein paar Wochen lang gut. Die Eltern haben ihren Stapel mit 50 Coupons zu Beginn der Woche, die Kinder erledigen Haushaltsarbeiten, für die sie von den Eltern Coupons erhalten. Am Ende der Woche zahlen die Kinder ihre Coupons als Steuern zurück.
In einer Woche aber beschließen Alice, Bob und Charlie, dass es eigentlich eine gute Idee wäre, ein paar Coupons mehr zu verdienen und zu sparen. Dann, so die Idee, können sie sich irgendwann einmal leisten, eine Woche einfach nur zu faulenzen. Die Steuern in dieser Woche würden sie dann mit Ersparnissen begleichen. Also reißen sie sich gleich zu Beginn der Woche um die Arbeiten und arbeiten für insgesamt 50 Coupons.
David und Eva wollen natürlich trotzdem noch arbeiten um Coupons zu verdienen, doch sie müssen erfahren, dass der Coupon-Stapel der Eltern bereits leer ist. Die Regierung hat also keine Nachfrage nach Arbeit mehr, und David und Eva werden arbeitslos.
Was ist passiert? Alice, Bob und Charlie haben zusammen Arbeit im Wert von 50 Coupons angeboten. David und Eva bieten Arbeit im Wert von mindestens 20 Coupons an. Insgesamt wird also Arbeit im Wert von 70 Coupons angeboten. Die Nachfrage nach Arbeit beträgt aber nur 50 Coupons.
Die neoliberale Reaktion der Eltern ist die, die wir im Alltag erleben. Die Eltern beschimpfen David und Eva als zu faul und erklären, dass die beiden am kommenden Hausarrest selbst schuld sind. Das ist natürlich zynischer Unsinn, denn gerade eben haben David und Eva ihren Arbeitswillen erklärt. Aber so läuft die Argumentation nunmal in der Realität.
Die humane Reaktion der Eltern wäre natürlich eine andere. Vielleicht stellen sie fest, dass der Gartenzaun mal wieder gestrichen werden müsste, oder andere Arbeiten getan werden könnten, die zwar nicht dringend notwendig sind, das Zusammenleben aber verschönern könnten. Also beschließen sie einfach, 20 zusätzliche Coupons zu drucken und damit David und Eva für zusätzliche Arbeit zu bezahlen. Der Familienfrieden ist damit gesichert, und das Leben wird auch noch ein wenig schöner.
Aber Moment: die Eltern operieren diese Woche mit einem Defizit von 20 Coupons! Müssen sie das nicht durch Steuern oder Schulden finanzieren? Nein, denn sie können neue Coupons ja einfach ausdrucken, völlig unproblematisch.
Beobachtung #4: Die Regierung muss sich nicht durch Steuern oder Schulden finanzieren. Sie ist immer liquide. Wenn eine Regierung mehr oder weniger Steuern einnimmt ändert dies nichts an ihrer Zahlungsfähigkeit. Die Regierung mit einem Privathaushalt gleichzusetzen ist ein Denkfehler.
Beobachtung #5: Es ist nicht so, dass die Regierung Steuern einzieht, um ihre Ausgaben bezahlen zu können. Umgekehrt ist es richtig: die Regierung muss Geld ausgeben, damit der private Sektor seine Steuerschulden begleichen und gleichzeitig seine Sparziele verfolgen kann.
Vielleicht stecken die Eltern aber immer noch in der neoliberalen Ideologie fest. Sie halten ein Defizit für problematisch und glauben, dieses auszugleichen zu müssen, indem sie in der nächsten Woche die Steuern auf 11 Coupons pro Kind anheben und dadurch einen "Überschuss" erzielen.
Es ist klar, dass die Coupons, die in der nächsten Woche in den Kreislauf einfließen, alleine nicht ausreichen um alle Steuern zu begleichen. Wenn es trotzdem nicht zu Steuerausfällen kommen soll, müssen Alice, Bob und Charlie einige ihrer gesparten Coupons wieder hergeben.
Beobachtung #6: Staatsdefizite entsprechen wachsendem Sparvermögen des privaten Sektors. Wenn der Staat einen Überschuss erwirtschaftet, schrumpfen zwangsläufig die privaten Vermögen.
(Kleine Nebenbemerkung: diese vollkommen simple Beobachtung hat es Vertretern von Modern Monetary Theory ermöglicht, bereits um 2000 die jetzige Wirtschaftskrise mit ihren Kreditausfällen und anderen Folgen vorherzusagen.)
Das einfache Gedankenspiel unserer imaginären Familie ist kein perfektes Abbild eines modernen Geldsystems. Zum Beispiel gibt eine Regierung Geld nicht aus, indem sie dieses druckt. Stattdessen werden einfach Kontostände bei der Zentralbank entsprechend angepasst, während Bargeld im Grunde eine sekundäre Währung ist, die 1:1 an die primäre Währung gekoppelt ist. Genauso könnte unsere Familie den "Coupon-Stand" im Computer in einer Tabelle verwalten. Trotzdem gelten die sechs einfachen Beobachtungen in der echten Welt.
Für Deutschland und andere Euro-Mitgliedsstaaten sind sie mit Vorsicht zu interpretieren, da diese Staaten aus Geldperspektive nicht souverän sind. In der Eurozone besteht die Regierung nur aus der Europäischen Zentralbank, während die nationalen Regierungen (und die darunter liegenden Landes- und Kommunalregierungen) Teil des privaten Sektors sind.
Die wichtigste Beobachtung bleibt aber: ein Staat, dessen Wirtschaft mit einer eigenen modernen Währung arbeitet, ist immer flüssig und kann, rein technisch, soviel Geld ausgeben wie er will. Es gibt keine Finanzierungsgrenzen. Insbesondere heißt das, dass ein Staatsdefizit nicht durch die Aufnahme von Schulden finanziert werden muss (dies geschieht aus rein politischen Gründen). Staatsschulden sind auch keine Belastung für zukünftige Generation, sondern enstprechen im Gegenteil privaten Vermögen, die an die nächste Generation weitergegeben werden.
All das widerspricht natürlich den Geschichten, die wir tagtäglich in den Medien hören, und es widerspricht den versteckten Annahmen, die diesen Geschichten zugrundeliegen. Ich habe einige Zeit auf der Suche nach Fehlern in Modern Monetary Theory verbracht und keine gefunden. Wir haben hier also wohl tatsächlich die überraschende Situation, dass eine Wissenschaft fast einheitlich an Aderlass glaubt.
Ich vermute, dass bei Lesern, die bis hierher gekommen sind (vielen Dank!) und denen diese Ideen nicht bereits vertraut waren, nun eine ganze Menge Fragen im Kopf schwirren. Mir ging das am Anfang auch so, und ich empfehle die Lektüre des bereits oben erwähnten Blogs für weitere Erklärungen, Fallanalysen und jede Menge empirischer Hinweise.
Es brennt mir zwar in den Fingern, zu den häufigsten dieser Fragen noch mehr zu schreiben, insbesondere zu Inflation (kurz: Inflation hat nicht wirklich etwas mit Geldmenge zu tun, was auch immer das überhaupt sein soll, sondern mit dem Verhältnis von Gesamtnachfrage zu Produktionskapazitäten; solange wegen mangelnder Nachfrage industrieweit Kapazitäten brach liegen und massive Unterbeschäftigung herrscht gibt es keine Inflationsgefahr, wie man ja auch in der jetzigen Krise am lebenden Beispiel sieht) und dazu, welche Lehren wir aus all dem für die Eurozone schließen sollten (kurz: Einführung einer Euro-weiten Finanzpolitik mit dem Ziel, in Europa Vollbeschäftigung zu erreichen; dies kann z.B. so ablaufen, dass auf Euro-Ebene Geld erzeugt wird, das dann gemäß wirtschaftspolitischer Kriterien an die Mitgliedsstaaten verteilt wird zum Zwecke der Schaffung von Arbeitsplätzen für unsere Infrastruktur und allgemeine Lebensqualität). Aber für heute ist dieser Eintrag schon sehr, sehr lang geworden. Also vielleicht ein andermal.
Es gab einmal eine Zeit, in der Regierungen ihre Währungen an andere Dinge gekoppelt haben: an Gold, oder an andere Währungen. Das ist heutzutage in der Regel nicht mehr der Fall (wobei man bei der Betrachtung des Euro vorsichtig sein muss): Regierungen haben Währungen eingeführt, in denen sie beliebig Geld erzeugen und vernichten können, und diese Währungen werden international frei gehandelt. Wie funktioniert das System also?
Der erstaunlich blogwütige Bill Mitchell erklärt das ungefähr wie folgt, wobei ich seine Geschichte entsprechend meines Verständnisses des Themas etwas modifiziert habe. Stellen wir uns eine ganz typische Familie vor, bestehend aus Eltern und fünf Kindern, die wir kanonischerweise Alice, Bob, Charlie, David und Eva nennen. Der Kinderreichtum ist vielleicht eher untypisch, aber wie üblich haben die Kinder nicht unbedingt Lust, im Haushalt mitzuhelfen.
Die Eltern sind Volkswirtschaftler und wollen ihren Kindern das Prinzip von Geld anschaulich näher bringen und damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Also führen sie die Regel ein, dass die Kinder für erledigte Arbeiten (Rasenmähen, Staubsaugen, Wäsche aufhängen, was auch immer) Familien-Coupons erhalten - das sind einfach bedruckte Papierstücke. An dieser Stelle frage ich mich, was wohl schlimmer sein mag: VWLer als Eltern, oder Mathematiker als Eltern. Aber die Kinder fragen sich wohl eher, was das ganze soll. Wieso sollten sie wertlose Papierstücke sammeln?
Den Eltern ist das natürlich auch klar. Also kündigen sie an, dass jedes Kind am Ende jeder Woche 10 Coupons an die Eltern bezahlen muss, ansonsten kriegt es Hausarrest. Ferner beschließen die Eltern, die an einer durchschnittlichen deutschen Universität gelernt haben, dass sie einen ausgeglichen Haushalt führen müssen, dass sie pro Woche höchstens 50 Coupons ausgeben werden, die den 50 von den Kindern zu zahlenden Coupons gegenüber stehen.
Nun sind die Kinder natürlich motiviert. Jedes Kind arbeitet für seine 10 Coupons, die am Ende der Woche zurück an die Eltern fließen.
Beobachtung #1: Das Ganze ist eine leicht durchschaubare Parabel mit den Eltern als Regierung, den Kindern als privatem Sektor und Coupons als Währung. Die 10 Coupons, die jedes Kind pro Woche zahlen muss, sind Steuern.
Beobachtung #2: Die Coupons erhalten ihren Wert dadurch, dass die Eltern Steuern erheben. Genauso erhalten "echte" Währungen ihren Wert dadurch, dass sie das einzige gültige Zahlungsmittel für Steuerschulden sind.
Die Kinder erkennen natürlich sehr schnell, dass sie auch untereinander tauschen können: ein paar Coupons gegen Süßigkeiten, zum Beispiel.
Beobachtung #3: Sobald eine Währung einen Wert hat, wird sie zu einem praktischen Tauschmittel für allgemeinen Handel. Dadurch entsteht leicht der Irrtum, dass nicht Steuern sondern etwas anderes die Quelle des Wertes der Währung sind. Das ist aber, wie gesagt, ein Irrtum.
Das Ganze funktioniert ein paar Wochen lang gut. Die Eltern haben ihren Stapel mit 50 Coupons zu Beginn der Woche, die Kinder erledigen Haushaltsarbeiten, für die sie von den Eltern Coupons erhalten. Am Ende der Woche zahlen die Kinder ihre Coupons als Steuern zurück.
In einer Woche aber beschließen Alice, Bob und Charlie, dass es eigentlich eine gute Idee wäre, ein paar Coupons mehr zu verdienen und zu sparen. Dann, so die Idee, können sie sich irgendwann einmal leisten, eine Woche einfach nur zu faulenzen. Die Steuern in dieser Woche würden sie dann mit Ersparnissen begleichen. Also reißen sie sich gleich zu Beginn der Woche um die Arbeiten und arbeiten für insgesamt 50 Coupons.
David und Eva wollen natürlich trotzdem noch arbeiten um Coupons zu verdienen, doch sie müssen erfahren, dass der Coupon-Stapel der Eltern bereits leer ist. Die Regierung hat also keine Nachfrage nach Arbeit mehr, und David und Eva werden arbeitslos.
Was ist passiert? Alice, Bob und Charlie haben zusammen Arbeit im Wert von 50 Coupons angeboten. David und Eva bieten Arbeit im Wert von mindestens 20 Coupons an. Insgesamt wird also Arbeit im Wert von 70 Coupons angeboten. Die Nachfrage nach Arbeit beträgt aber nur 50 Coupons.
Die neoliberale Reaktion der Eltern ist die, die wir im Alltag erleben. Die Eltern beschimpfen David und Eva als zu faul und erklären, dass die beiden am kommenden Hausarrest selbst schuld sind. Das ist natürlich zynischer Unsinn, denn gerade eben haben David und Eva ihren Arbeitswillen erklärt. Aber so läuft die Argumentation nunmal in der Realität.
Die humane Reaktion der Eltern wäre natürlich eine andere. Vielleicht stellen sie fest, dass der Gartenzaun mal wieder gestrichen werden müsste, oder andere Arbeiten getan werden könnten, die zwar nicht dringend notwendig sind, das Zusammenleben aber verschönern könnten. Also beschließen sie einfach, 20 zusätzliche Coupons zu drucken und damit David und Eva für zusätzliche Arbeit zu bezahlen. Der Familienfrieden ist damit gesichert, und das Leben wird auch noch ein wenig schöner.
Aber Moment: die Eltern operieren diese Woche mit einem Defizit von 20 Coupons! Müssen sie das nicht durch Steuern oder Schulden finanzieren? Nein, denn sie können neue Coupons ja einfach ausdrucken, völlig unproblematisch.
Beobachtung #4: Die Regierung muss sich nicht durch Steuern oder Schulden finanzieren. Sie ist immer liquide. Wenn eine Regierung mehr oder weniger Steuern einnimmt ändert dies nichts an ihrer Zahlungsfähigkeit. Die Regierung mit einem Privathaushalt gleichzusetzen ist ein Denkfehler.
Beobachtung #5: Es ist nicht so, dass die Regierung Steuern einzieht, um ihre Ausgaben bezahlen zu können. Umgekehrt ist es richtig: die Regierung muss Geld ausgeben, damit der private Sektor seine Steuerschulden begleichen und gleichzeitig seine Sparziele verfolgen kann.
Vielleicht stecken die Eltern aber immer noch in der neoliberalen Ideologie fest. Sie halten ein Defizit für problematisch und glauben, dieses auszugleichen zu müssen, indem sie in der nächsten Woche die Steuern auf 11 Coupons pro Kind anheben und dadurch einen "Überschuss" erzielen.
Es ist klar, dass die Coupons, die in der nächsten Woche in den Kreislauf einfließen, alleine nicht ausreichen um alle Steuern zu begleichen. Wenn es trotzdem nicht zu Steuerausfällen kommen soll, müssen Alice, Bob und Charlie einige ihrer gesparten Coupons wieder hergeben.
Beobachtung #6: Staatsdefizite entsprechen wachsendem Sparvermögen des privaten Sektors. Wenn der Staat einen Überschuss erwirtschaftet, schrumpfen zwangsläufig die privaten Vermögen.
(Kleine Nebenbemerkung: diese vollkommen simple Beobachtung hat es Vertretern von Modern Monetary Theory ermöglicht, bereits um 2000 die jetzige Wirtschaftskrise mit ihren Kreditausfällen und anderen Folgen vorherzusagen.)
Das einfache Gedankenspiel unserer imaginären Familie ist kein perfektes Abbild eines modernen Geldsystems. Zum Beispiel gibt eine Regierung Geld nicht aus, indem sie dieses druckt. Stattdessen werden einfach Kontostände bei der Zentralbank entsprechend angepasst, während Bargeld im Grunde eine sekundäre Währung ist, die 1:1 an die primäre Währung gekoppelt ist. Genauso könnte unsere Familie den "Coupon-Stand" im Computer in einer Tabelle verwalten. Trotzdem gelten die sechs einfachen Beobachtungen in der echten Welt.
Für Deutschland und andere Euro-Mitgliedsstaaten sind sie mit Vorsicht zu interpretieren, da diese Staaten aus Geldperspektive nicht souverän sind. In der Eurozone besteht die Regierung nur aus der Europäischen Zentralbank, während die nationalen Regierungen (und die darunter liegenden Landes- und Kommunalregierungen) Teil des privaten Sektors sind.
Die wichtigste Beobachtung bleibt aber: ein Staat, dessen Wirtschaft mit einer eigenen modernen Währung arbeitet, ist immer flüssig und kann, rein technisch, soviel Geld ausgeben wie er will. Es gibt keine Finanzierungsgrenzen. Insbesondere heißt das, dass ein Staatsdefizit nicht durch die Aufnahme von Schulden finanziert werden muss (dies geschieht aus rein politischen Gründen). Staatsschulden sind auch keine Belastung für zukünftige Generation, sondern enstprechen im Gegenteil privaten Vermögen, die an die nächste Generation weitergegeben werden.
All das widerspricht natürlich den Geschichten, die wir tagtäglich in den Medien hören, und es widerspricht den versteckten Annahmen, die diesen Geschichten zugrundeliegen. Ich habe einige Zeit auf der Suche nach Fehlern in Modern Monetary Theory verbracht und keine gefunden. Wir haben hier also wohl tatsächlich die überraschende Situation, dass eine Wissenschaft fast einheitlich an Aderlass glaubt.
Ich vermute, dass bei Lesern, die bis hierher gekommen sind (vielen Dank!) und denen diese Ideen nicht bereits vertraut waren, nun eine ganze Menge Fragen im Kopf schwirren. Mir ging das am Anfang auch so, und ich empfehle die Lektüre des bereits oben erwähnten Blogs für weitere Erklärungen, Fallanalysen und jede Menge empirischer Hinweise.
Es brennt mir zwar in den Fingern, zu den häufigsten dieser Fragen noch mehr zu schreiben, insbesondere zu Inflation (kurz: Inflation hat nicht wirklich etwas mit Geldmenge zu tun, was auch immer das überhaupt sein soll, sondern mit dem Verhältnis von Gesamtnachfrage zu Produktionskapazitäten; solange wegen mangelnder Nachfrage industrieweit Kapazitäten brach liegen und massive Unterbeschäftigung herrscht gibt es keine Inflationsgefahr, wie man ja auch in der jetzigen Krise am lebenden Beispiel sieht) und dazu, welche Lehren wir aus all dem für die Eurozone schließen sollten (kurz: Einführung einer Euro-weiten Finanzpolitik mit dem Ziel, in Europa Vollbeschäftigung zu erreichen; dies kann z.B. so ablaufen, dass auf Euro-Ebene Geld erzeugt wird, das dann gemäß wirtschaftspolitischer Kriterien an die Mitgliedsstaaten verteilt wird zum Zwecke der Schaffung von Arbeitsplätzen für unsere Infrastruktur und allgemeine Lebensqualität). Aber für heute ist dieser Eintrag schon sehr, sehr lang geworden. Also vielleicht ein andermal.
Freitag, August 27, 2010
Pseudo-Emanzipation
Update: Ich habe inzwischen eine überraschend rasche Antwort von Barbara Steffens erhalten in der sie erklärt, dass sie dies nicht gesagt habe, und ihre Aussage in dem Artikel missverständlich, da verkürzt, wiedergegeben wurde. Es tut mir leid, wenn ich jemandem mit diesem Posting auf die falsche Fährte gebracht haben sollte. Ich lasse den ursprünglichen Text der Vollständigkeit halber im Folgenden stehen, er ist aber nun mit der entsprechenden Vorsicht zu lesen.
In Nordrhein-Westfalen ist seit der Regierungsbildung Barbara Steffens (Grüne) die Ministerin für (unter anderem) Emanzipation. Die hat jetzt, laut SZ von heute (Seite 2), verlauten lassen, dass es in ihren Augen okay ist wenn nur Männer durch einen Pflichtdienst in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Zitat: "Bei aller Emanzipation, Frauen kriegen eben Kinder."
Ich verstehe einfach nicht, warum manche Menschen ein derart negatives Bild von Gerechtigkeit haben. Das ist ein Gerechtigkeitsverständnis bei dem man, um Martins Beitrag zu unserer gestrigen Mittagsdiskussion zu zitieren, in Europa Menschen hungern lässt, weil ja schließlich in Afrika auch Menschen hungern.
Pflichtdienst mit Schwangerschaft gleichzusetzen ist einfach nur zynisch. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der keine Frau unfreiwillig schwanger sein muss. Gleichzeitig beteiligen sich Männer zunehmend an der Erziehung, und der Schutz für schwangere Frauen ist erheblich. All das sind Errungenschaften, die in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft wurden und unsere Welt besser machen.
Zumindest dieses eine Grünen-Mitglied hat da gerade innerlich mindestens 30 Jahre gesellschaftlichen Fortschritts zurückgedreht. Ich hoffe, dass diese Art von Unfug bei den Grünen nicht noch weiter verbreitet ist, von denen bin ich nämlich eigentlich Besseres gewohnt.
(Übrigens, zum Thema Sozialdienste - denn nur deshalb wird überhaupt semi-ernsthaft über Pflichtdienste geredet: All das wäre gar kein so großes Problem, wenn die Politik sich aus der selbstverschuldeten neo-liberalen Unmündigkeit befreien würde; die Kapazität an Arbeitskräften ist ja in jedem Fall da. Aber bis dahin liegt leider noch ein weiter Weg vor uns.)
In Nordrhein-Westfalen ist seit der Regierungsbildung Barbara Steffens (Grüne) die Ministerin für (unter anderem) Emanzipation. Die hat jetzt, laut SZ von heute (Seite 2), verlauten lassen, dass es in ihren Augen okay ist wenn nur Männer durch einen Pflichtdienst in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Zitat: "Bei aller Emanzipation, Frauen kriegen eben Kinder."
Ich verstehe einfach nicht, warum manche Menschen ein derart negatives Bild von Gerechtigkeit haben. Das ist ein Gerechtigkeitsverständnis bei dem man, um Martins Beitrag zu unserer gestrigen Mittagsdiskussion zu zitieren, in Europa Menschen hungern lässt, weil ja schließlich in Afrika auch Menschen hungern.
Pflichtdienst mit Schwangerschaft gleichzusetzen ist einfach nur zynisch. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der keine Frau unfreiwillig schwanger sein muss. Gleichzeitig beteiligen sich Männer zunehmend an der Erziehung, und der Schutz für schwangere Frauen ist erheblich. All das sind Errungenschaften, die in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft wurden und unsere Welt besser machen.
Zumindest dieses eine Grünen-Mitglied hat da gerade innerlich mindestens 30 Jahre gesellschaftlichen Fortschritts zurückgedreht. Ich hoffe, dass diese Art von Unfug bei den Grünen nicht noch weiter verbreitet ist, von denen bin ich nämlich eigentlich Besseres gewohnt.
(Übrigens, zum Thema Sozialdienste - denn nur deshalb wird überhaupt semi-ernsthaft über Pflichtdienste geredet: All das wäre gar kein so großes Problem, wenn die Politik sich aus der selbstverschuldeten neo-liberalen Unmündigkeit befreien würde; die Kapazität an Arbeitskräften ist ja in jedem Fall da. Aber bis dahin liegt leider noch ein weiter Weg vor uns.)