Zugegeben, sich dem Thema ernsthaft zu nähern kostet Zeit und Arbeit, und ab und zu muss man auch die eigenen Vorurteile ablegen. All das kann unangenehm sein. Ich versuche trotzdem, mich dem immer wieder zu stellen. Daraus entstehen dann unter anderem meine Blogeinträge zur Modern Monetary Theory. Und heute will ich mich ganz konkret der Frage widmen, ob Geld nicht vielleicht unausweichlich ist.
Wie werden innerhalb einer Gesellschaft die erwirtschafteten Güter verteilt? Man mag sich einen idyllischen kleinen Stammesverband vorstellen, in dem Geld dabei keine Rolle spielt. Es wird gejagt und gesammelt, und danach wird irgendwie verteilt.
Aber wer bekommt das größte Stück Fleisch? Wer bekommt die besten Felle? Wie auch immer die Entscheidung getroffen wird, niemand wird gerne übervorteilt. Damit es nicht zu Handgreiflichkeiten kommt, müssen die Stammesmitglieder den Überblick darüber behalten können, was fair und angemessen ist, und darüber Einigkeit herstellen können.
Dafür sind sowohl großer Verstand als auch ein gutes Gedächtnis nötig. Eine beliebte Theorie besagt, dass sich der Neocortex im Wesentlichen zur Bewältigung sozialer Aufgaben dieser Art entwickelt hat. Der Anthropologe Robin Dunbar hat eine Korrelation zwischen der Größe dieses Teils der Großhirnrinde und der typischen Größe sozialer Gruppen unter anderen Primaten festgestellt. Daraus hat er errechnet, dass die maximale Gruppengröße beim Menschen irgendwo zwischen 100 bis 230 Individuen liegen müsste. Wenn diese Größe überschritten wird, sind wir geistig nicht mehr in der Lage, den Überblick zu behalten.
Mit anderen Worten: wenn unser soziales und wirtschaftliches Netzwerk eine bestimmte Größe überschreitet, kann die Verteilung wirtschaftlicher Güter ohne technologischen Fortschritt nicht mehr funktionieren. Dieser Fortschritt bestand, historisch gesehen, in der schrittweisen Entwicklung von Schrift, Arithmetik, und Geld. Aber ist Geld unausweichlich?
Wie werden innerhalb einer Gesellschaft die erwirtschafteten Güter verteilt? Die Entstehungsgeschichte von Geld, die in der VWL meist erzählt wird, ist ziemlich naiv und hält empirischen Untersuchungen nicht stand. Aber sie legt zumindest nahe, dass reiner Tauschhandel für ein hochgradig differenziertes Wirtschaftssystem nicht geeignet ist.
Ich kann in einem Restaurant essen gehen, obwohl ich persönlich der Restaurantbesitzerin keinen realen Wert anbieten kann. Sie benötigt keine meiner besonderen Fähigkeiten, und auch an den Sachwerten, die ich besitze, hat sie wenig akutes Interesse. Aber es gibt in unserer Gesellschaft Personen und Organisationen, die meine Fähigkeiten nutzen wollen. Mittels Geld wird diese Wertschätzung greifbar und, noch wichtiger, übertragbar.
Geld ist eine flexible Abstraktion, die entgegen der Richtung von realen Gütern und Dienstleistungen zirkuliert. Ich bezahle im Restaurant, die Restaurantbesitzerin bezahlt Steuern, ihre Angestellten und Lieferanten, die wiederum ihre Angestellten und Lieferanten bezahlen, und so weiter. Mein Zahlungsstrom verzweigt sich und vermischt sich mit anderen, und irgendwann landet er wieder bei einer Organisation, die mein Gehalt bezahlt. Ohne Geld scheint eine derart komplexe Struktur kaum möglich. Aber geht es wirklich nicht anders?
Wie werden innerhalb einer Gesellschaft die erwirtschafteten Güter verteilt? Vielleicht hilft ein Beispiel bei der Beantwortung dieser Frage. Sagen wir, 100.000 Menschen in Deutschland hätten gerne ein neues Tablet, aber auf Grund beschränkter Produktionskapazitäten sind in naher Zukunft nur 50.000 verfügbar. Diese Einschränkung ist wichtig: die Verteilungsfrage würde sich nicht stellen, wenn wir Tablets einfach herbei zaubern könnten. Aber das können wir leider nicht.
Jedes Verteilungssystem muss mindestens zwei Dinge leisten:
- Besagte 100.000 Menschen müssen kommunizieren können, dass sie gerne ein Tablet hätten.
- Die 50.000 verfügbaren Einheiten müssen auf die 100.000 Menschen verteilt werden.
Ein jeder mag sich zu den Schwächen und Unzulänglichkeiten dieses Modells seine eigenen Gedanken machen. Hier ist der m.E. größte Haken: das Modell ist unfair. Was jemand von der Gesellschaft bekommt ist unabhängig von dem, was er für die Gesellschaft leistet. Selbst die blauäugigsten Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens werden kaum behaupten, dass alle für unsere Gesellschaft notwendigen Arbeiten erledigt würden, wenn die Verteilung aller Güter allein nach diesem Zufallsprinzip geschähe.
Irgendwie wollen und müssen wir als Gesellschaft bewerten und dokumentieren, wie viel jemand, idealerweise im rein moralischen Sinne, verdient hat. Wir können uns winden, aber was bleibt uns am Ende anderes übrig, als dafür Zahlen zu verwenden? Und sind diese Zahlen dann nicht zwangsläufig zu Geld de facto äquivalent?
Vielleicht gäbe es mehr Restriktionen, wann und wie diese Zahlen hin- und hergeschoben werden können. Aber solche Restriktionen gibt es auch für unser heutiges Geld, und im Übrigen gibt es gute Gründe dafür, diese Zahlen prinzipiell für jeden verschiebbar zu machen - für privates Unternehmertum ist das zum Beispiel unabdingbar.
Ein anderer Haken des reinen Zufallsprinzips ist, dass es zu zufällig ist. In der Regel werden die meisten Menschen mit der Mischung an Gütern, die sie erhalten haben, nicht zufrieden sein. Es ist naheliegend, mit anderen zu tauschen. Aus diesem Tauschgeschäft wird zwangsläufig etwas entstehen, das zu Geld de facto äquivalent ist. Das kann das reale Äquivalent von Stones of Jordan sein. Zigaretten wären angesichts der empirischen Erfahrung ein naheliegender Kandidat. Wahrscheinlich ist auch, dass professionelle Tauschhändler ein eigenes Punktesystem einführen. Dann kommt jemand auf die Idee, dass man doch eigentlich Punkte beim Händler A gegen Punkte beim Händler B tauschen können müsste, und auf diese Weise wird unser modernes Geldsystem schrittweise neu erfunden.
Ich kann das Thema drehen und wenden wie ich will, das Ergebnis ist das Gleiche. Geld, in welcher Form auch immer, ist unausweichlich. Ich habe dafür keinen Beweis, der an mathematische Standards heran reicht, aber wer hat so etwas in diesem Gebiet schon? Und abgesehen davon: wem auch immer ich begegnet bin, der Geld gerne abschaffen würde, keiner hatte bis jetzt auf die hier aufgekommenen Fragen eine durchdachte Antwort.
So bleibt für mich nur ein Schluss möglich. Geld an sich ist nicht das Problem. Das Problem ist, wie wir damit umgehen, und welchen Regeln wir das Geld unterwerfen. An dieser Stelle müssen wir ansetzen und hartnäckig sein, auch wenn es manchmal kompliziert wird. Denn eins ist ganz klar: Geld ist von Menschen geschaffen, also kann es auch von Menschen geändert werden.