Mittwoch, Januar 25, 2012

Warum Geld?

Geld durchdringt unser Leben. Wenn dann mit dem Geld etwas gehörig schief läuft, wie in der sich nun schon seit Jahren in verschiedenen Formen hinziehenden Krise, dann wird schnell der Ruf laut, das Geld doch am Besten gleich ganz abzuschaffen. Das ist verständlich, wird Geld doch als Wurzel allen Übels wahrgenommen. Es ist aber auch intellektuell faul, da der Ruf nach Geldabschaffung in der Regel nur die eigene Unverständnis und Hilflosigkeit vertuschen will.

Zugegeben, sich dem Thema ernsthaft zu nähern kostet Zeit und Arbeit, und ab und zu muss man auch die eigenen Vorurteile ablegen. All das kann unangenehm sein. Ich versuche trotzdem, mich dem immer wieder zu stellen. Daraus entstehen dann unter anderem meine Blogeinträge zur Modern Monetary Theory. Und heute will ich mich ganz konkret der Frage widmen, ob Geld nicht vielleicht unausweichlich ist.

Wie werden innerhalb einer Gesellschaft die erwirtschafteten Güter verteilt? Man mag sich einen idyllischen kleinen Stammesverband vorstellen, in dem Geld dabei keine Rolle spielt. Es wird gejagt und gesammelt, und danach wird irgendwie verteilt.

Aber wer bekommt das größte Stück Fleisch? Wer bekommt die besten Felle? Wie auch immer die Entscheidung getroffen wird, niemand wird gerne übervorteilt. Damit es nicht zu Handgreiflichkeiten kommt, müssen die Stammesmitglieder den Überblick darüber behalten können, was fair und angemessen ist, und darüber Einigkeit herstellen können.

Dafür sind sowohl großer Verstand als auch ein gutes Gedächtnis nötig. Eine beliebte Theorie besagt, dass sich der Neocortex im Wesentlichen zur Bewältigung sozialer Aufgaben dieser Art entwickelt hat. Der Anthropologe Robin Dunbar hat eine Korrelation zwischen der Größe dieses Teils der Großhirnrinde und der typischen Größe sozialer Gruppen unter anderen Primaten festgestellt. Daraus hat er errechnet, dass die maximale Gruppengröße beim Menschen irgendwo zwischen 100 bis 230 Individuen liegen müsste. Wenn diese Größe überschritten wird, sind wir geistig nicht mehr in der Lage, den Überblick zu behalten.

Mit anderen Worten: wenn unser soziales und wirtschaftliches Netzwerk eine bestimmte Größe überschreitet, kann die Verteilung wirtschaftlicher Güter ohne technologischen Fortschritt nicht mehr funktionieren. Dieser Fortschritt bestand, historisch gesehen, in der schrittweisen Entwicklung von Schrift, Arithmetik, und Geld. Aber ist Geld unausweichlich?

Wie werden innerhalb einer Gesellschaft die erwirtschafteten Güter verteilt? Die Entstehungsgeschichte von Geld, die in der VWL meist erzählt wird, ist ziemlich naiv und hält empirischen Untersuchungen nicht stand. Aber sie legt zumindest nahe, dass reiner Tauschhandel für ein hochgradig differenziertes Wirtschaftssystem nicht geeignet ist.

Ich kann in einem Restaurant essen gehen, obwohl ich persönlich der Restaurantbesitzerin keinen realen Wert anbieten kann. Sie benötigt keine meiner besonderen Fähigkeiten, und auch an den Sachwerten, die ich besitze, hat sie wenig akutes Interesse. Aber es gibt in unserer Gesellschaft Personen und Organisationen, die meine Fähigkeiten nutzen wollen. Mittels Geld wird diese Wertschätzung greifbar und, noch wichtiger, übertragbar.

Geld ist eine flexible Abstraktion, die entgegen der Richtung von realen Gütern und Dienstleistungen zirkuliert. Ich bezahle im Restaurant, die Restaurantbesitzerin bezahlt Steuern, ihre Angestellten und Lieferanten, die wiederum ihre Angestellten und Lieferanten bezahlen, und so weiter. Mein Zahlungsstrom verzweigt sich und vermischt sich mit anderen, und irgendwann landet er wieder bei einer Organisation, die mein Gehalt bezahlt. Ohne Geld scheint eine derart komplexe Struktur kaum möglich. Aber geht es wirklich nicht anders?

Wie werden innerhalb einer Gesellschaft die erwirtschafteten Güter verteilt? Vielleicht hilft ein Beispiel bei der Beantwortung dieser Frage. Sagen wir, 100.000 Menschen in Deutschland hätten gerne ein neues Tablet, aber auf Grund beschränkter Produktionskapazitäten sind in naher Zukunft nur 50.000 verfügbar. Diese Einschränkung ist wichtig: die Verteilungsfrage würde sich nicht stellen, wenn wir Tablets einfach herbei zaubern könnten. Aber das können wir leider nicht.

Jedes Verteilungssystem muss mindestens zwei Dinge leisten:
  1. Besagte 100.000 Menschen müssen kommunizieren können, dass sie gerne ein Tablet hätten.
  2. Die 50.000 verfügbaren Einheiten müssen auf die 100.000 Menschen verteilt werden.
Hier ist die vermutlich einfachste Alternative zu dem heute bei uns praktizierten Verfahren. Wir könnten ein Formular bereitstellen, mit dem sich jeder selbst als Nachfrager eintragen kann. Danach werden die 50.000 verfügbaren Einheiten unter allen 100.000 Angemeldeten verlost.

Ein jeder mag sich zu den Schwächen und Unzulänglichkeiten dieses Modells seine eigenen Gedanken machen. Hier ist der m.E. größte Haken: das Modell ist unfair. Was jemand von der Gesellschaft bekommt ist unabhängig von dem, was er für die Gesellschaft leistet. Selbst die blauäugigsten Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens werden kaum behaupten, dass alle für unsere Gesellschaft notwendigen Arbeiten erledigt würden, wenn die Verteilung aller Güter allein nach diesem Zufallsprinzip geschähe.

Irgendwie wollen und müssen wir als Gesellschaft bewerten und dokumentieren, wie viel jemand, idealerweise im rein moralischen Sinne, verdient hat. Wir können uns winden, aber was bleibt uns am Ende anderes übrig, als dafür Zahlen zu verwenden? Und sind diese Zahlen dann nicht zwangsläufig zu Geld de facto äquivalent?

Vielleicht gäbe es mehr Restriktionen, wann und wie diese Zahlen hin- und hergeschoben werden können. Aber solche Restriktionen gibt es auch für unser heutiges Geld, und im Übrigen gibt es gute Gründe dafür, diese Zahlen prinzipiell für jeden verschiebbar zu machen - für privates Unternehmertum ist das zum Beispiel unabdingbar.

Ein anderer Haken des reinen Zufallsprinzips ist, dass es zu zufällig ist. In der Regel werden die meisten Menschen mit der Mischung an Gütern, die sie erhalten haben, nicht zufrieden sein. Es ist naheliegend, mit anderen zu tauschen. Aus diesem Tauschgeschäft wird zwangsläufig etwas entstehen, das zu Geld de facto äquivalent ist. Das kann das reale Äquivalent von Stones of Jordan sein. Zigaretten wären angesichts der empirischen Erfahrung ein naheliegender Kandidat. Wahrscheinlich ist auch, dass professionelle Tauschhändler ein eigenes Punktesystem einführen. Dann kommt jemand auf die Idee, dass man doch eigentlich Punkte beim Händler A gegen Punkte beim Händler B tauschen können müsste, und auf diese Weise wird unser modernes Geldsystem schrittweise neu erfunden.

Ich kann das Thema drehen und wenden wie ich will, das Ergebnis ist das Gleiche. Geld, in welcher Form auch immer, ist unausweichlich. Ich habe dafür keinen Beweis, der an mathematische Standards heran reicht, aber wer hat so etwas in diesem Gebiet schon? Und abgesehen davon: wem auch immer ich begegnet bin, der Geld gerne abschaffen würde, keiner hatte bis jetzt auf die hier aufgekommenen Fragen eine durchdachte Antwort.

So bleibt für mich nur ein Schluss möglich. Geld an sich ist nicht das Problem. Das Problem ist, wie wir damit umgehen, und welchen Regeln wir das Geld unterwerfen. An dieser Stelle müssen wir ansetzen und hartnäckig sein, auch wenn es manchmal kompliziert wird. Denn eins ist ganz klar: Geld ist von Menschen geschaffen, also kann es auch von Menschen geändert werden.

Montag, Januar 23, 2012

Zwei Briefumschläge und ein probabilistisches Wunder, Teil 2

Beim letzten Mal habe ich ein Rätsel vorgestellt und dessen Lösung versprochen. Wer über das Rätsel noch nicht nachgedacht hat, sollte jetzt schnell in einen anderen Tab wechseln oder die folgenden Spoiler in Kauf nehmen.

Aber bevor ich die Lösung präsentiere, hier zunächst noch einmal das Rätsel in Kurzform. Der Quiz-Master M in einer Quiz-Show hat zwei verschlossene Briefumschläge, in denen jeweils ein Zettel mit einer Zahl steckt. Die beiden Zahlen sind verschieden, aber darüber hinaus ist nichts bekannt, und der Quiz-Teilnehmer T muss sich nun festlegen, in welchem Umschlag er die größere Zahl glaubt. Liegt er richtig, so kann er in die nächste Runde weiter rücken.

Wir haben bereits gesehen, dass ohne ein Blick in die Umschläge die beste Strategie für T ist, einen der Umschläge zufällig auszuwählen. Er rückt dann mit Wahrscheinlichkeit 1/2 weiter. Deswegen denken wir über zwei Varianten nach.
  1. Der Quiz-Master (M) öffnet einen der Umschläge und zeigt T die Zahl darin, bevor dieser sich festlegen muss.
  2. T darf einen Umschlag seiner Wahl öffnen und die Zahl darin ansehen, bevor er sich festlegen muss.



Dem Quiz-Master ausgeliefert

In der ersten Variante gibt es keine bessere Strategie für T, und der Beweis ist ganz ähnlich zu dem im letzten Beitrag. Wir müssen die Strategie von M nur etwas präzisieren.

M schreibt in einen der Umschläge die Zahl 0. Danach entscheidet er mit Hilfe einer Münze, ob er in den anderen Umschlag die Zahl 1 oder -1 schreibt. Während der Show öffnet er immer den Umschlag mit der Zahl 0.

Wenn sich T auf einen Umschlag festlegt, dann geschieht dies stochastisch unabhängig vom Münzwurf von M, und damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass T weiter rückt, in jedem Fall 1/2 (denn er liegt mit dieser Wahrscheinlichkeit richtig, egal welchen Umschlag er wählt). Der formale Beweis ist analog zu dem letztes Mal diskutierten.


Die Wahl des Briefumschlags ist entscheidend

Wenn der Quiz-Master M die geschilderte Strategie einsetzt, und aber T auswählen kann, welcher Briefumschlag geöffnet werden soll, dann sieht die Situation auf einmal anders aus. Dann wählt T nämlich einen Umschlag zufällig aus. Mit 50%-iger Wahrscheinlichkeit öffnet er dabei den Umschlag, in dem die 0 steht - und dann ist er genau so schlau wie vorher. Ebenfalls mit 50%-iger Wahrscheinlichkeit öffnet er aber den anderen Umschlag, und dann gewinnt er in jedem Fall, weil er weiß, dass der ungeöffnete Umschlag eine 0 enthält. T gewinnt also mit Wahrscheinlichkeit 75%.

Diese Argumentation funktioniert aber nur, weil T weiß, wie sich der Quiz-Master verhält. Wie sieht es aus, wenn man dieses Wissen nicht hat? Erstaunlicherweise gibt es eine Strategie, die ganz allgemein funktioniert: T wählt zunächst eine zufällige Zahl z, gezogen gemäß einer Verteilung, deren Dichte überall positiv ist. Danach öffnet er einen der beiden Umschläge, zufällig gewählt. Wenn z größer als die Zahl im geöffneten Briefumschlag ist, so sagt T, die Zahl im anderen Umschlag sei größer, und umgekehrt.

Wie gut ist diese Strategie? Dazu unterscheidet man, ob z sich zwischen den Zahlen in den Umschlägen befindet oder nicht. Liegt z nicht dazwischen, so ist T genau so schlau wie vorher und gewinnt mit Wahrscheinlichkeit 50%. Liegt z aber zwischen den Zahlen in den beiden Umschlägen, so wird T immer richtig liegen. Da dies mit positiver Wahrscheinlichkeit geschieht, liegt die Gewinnwahrscheinlichkeit von T insgesamt ein wenig über 50%.