Montag, Oktober 18, 2010

Spiel mir das Lied von der Inflation

Letzten Monat habe ich über Modern Monetary Theory geschrieben. Für diejenigen, die etwas spät dran sind sei auch noch einmal auf das Buch 7 Deadly Innocent Frauds von Warren Mosler, und auf billy blog von Bill Mitchell hingewiesen.

Eine der zentralen Erkenntnisse von Modern Monetary Theory ist, dass das Haushaltsdefizit der Regierung zwangsläufig 1:1 der Zunahme der Nettosparvermögen des privaten Sektors entspricht - solange man von einem abgeschlossenen System oder einem ausgewogenen Außenhandel ausgeht (Nachtrag: bei einem unausgewogenen Außenhandel verschiebt sich das Verhältnis entsprechend der Außenhandelsbilanz, abgesehen davon ändert sich nichts). Mit anderen Worten: die privaten Haushalte können Sparvermögen netto nur dann aufbauen, wenn die Regierung ein Haushaltsdefizit fährt.

Dieses Resultat folgt zwangsläufig aus einer Betrachtung der Volkswirtschaft als Flussnetzwerk und der Berücksichtigung, dass für private Haushalte Flusserhaltung gilt: alles Geld, das ein privater Haushalt einnimmt, wird zwangsläufig entweder ausgegeben oder gespart, und alles Geld, das ausgegeben wird, stammt entweder aus einer Einnahme oder aus der Auflösung von Sparvermögen bzw. aus Verschuldung. Eine ausführlichere Erklärung, wie man aus dieser Art von Beobachtung die sogenannten Sectoral Balances herleiten kann, findet sich hier: Norway and sectoral balances

Solange die privaten Haushalte netto in der betrachteten Währung sparen wollen, sollte die Regierung also ein entsprechendes Haushaltsdefizit fahren, weil ansonsten die Wirtschaft abgewürgt wird und Arbeitslosigkeit entsteht. Wollen die privaten Haushalte umgekehrt netto ihre Sparvermögen abbauen, so sollte die Regierung einen entsprechenden Haushaltsüberschuss fahren, weil ansonsten erhöhte Inflation oder Asset Bubbles entstehen.

Es gibt also zu jeder gegebenen Zeit eine "richtige" Höhe des Haushaltsdefizit aus wirtschaftlicher Perspektive. Ab und zu kann diese richtige Höhe durchaus auch bei null liegen, aber das wäre wohl eher ein zufälliges Ereignis. Da der private Sektor typischerweise netto Sparvermögen aufbauen will ist damit zu rechnen, dass die Höhe des "richtigen" Haushaltsdefizits langfristig positiv ist. Der Staat sollte dann ein entsprechendes langfristiges Defizit fahren.

Ein typischer Einwand dagegen ist die Behauptung, dass eine Regierung ein Defizit nicht beliebig lange fahren könne, weil sie dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geriete. Dieser Einwand ist für nicht-souveräne Staaten wie Deutschland, Frankreich und Griechenland richtig, und er gilt auch für Landes- und Kommunalregierungen. Für souveräne Staaten wie z.B. die USA, Großbritannien, Island, die Schweiz oder Japan ist dieser Einwand falsch, wie ich in einem früheren Eintrag erklärt habe.

Aus deutscher Perspektive ist die richtige Schlussfolgerung, die politisch daraus gezogen werden sollte, dass entweder Deutschland seine Souveränität wiederherstellen sollte, oder auf Ebene der Euro-Zone eine souveräne Regierung geschaffen werden sollte. (Ich persönlich bevorzuge aus politischen Erwägungen heraus Letzteres, aber beide Varianten sind aus rein volkswirtschaftlicher Sicht sinnvoll.)

Heute will ich mich einem anderen typischen Einwand widmen: mit schöner Regelmäßigkeit wird behauptet, die laufenden Defizite würden zwangsläufig zu Inflation führen. Das ist ein Irrglauben. Um ihn vernünftig zu entwirren stelle ich mir heute die Fragen, was Inflation überhaupt ist, ob sie schlimm ist, und wodurch sie entsteht. Außerdem will ich darauf eingehen, woher der Irrglaube kommt.

Was ist Inflation?

Inflation (Vorsicht: die Wikipedia hat leider einen neo-klassischen Bias) ist die Preissteigerung eines fest definierten Warenkorbs. Kostet der Warenkorb in einem Jahr 1000# und im nächsten Jahr 1035#, so beträgt die Inflation 3,5%.

Darüber, wie der Warenkorb zusammengesetzt sein soll, kann man natürlich streiten. Da Preissteigerungen nur im aller seltensten Fall alle Güter gleichmäßig betreffen, kann man dies in statistischen Tricksereien ausnutzen um den Eindruck einer höheren oder niedrigeren Inflation zu erzeugen. Ein schönes Beispiel dafür ist die außerordentliche Preisstabilität von Schokolade in Deutschland. Wäre der Warenkorb nur mit Schokoladentafeln gefüllt gewesen, dann hätte es in Deutschland vom Zweiten Weltkrieg bis zur Einführung des Euro fast keine Inflation geben.

Natürlich wird der Warenkorb normalerweise einigermaßen sinnvoll definiert, so dass Inflation ein nützliches Maß für allgemeine Preissteigerungen ist.

Ist Inflation schlimm?

Der wichtigste Effekt von Inflation ist, dass sie ähnlich wirkt wie negative Zinsen auf Sparvermögen. Sie ist daher ein Anreiz, verdientes Geld wieder auszugeben, entweder für Konsum oder für Investitionen, die einen höheren Gewinn versprechen. Das ist sinnvoll. Auf der anderen Seite ist es auch sinnvoll, die Menschen zum Sparen zu ermutigen, so dass sie sich ab und zu mit ihren Ersparnissen etwas Größeres leisten können. Zwischen diesen beiden Überlegungen muss eine Balance gefunden werden, die durchaus auch von den politischen Zielen der Regierung abhängt.

Ein weiterer Effekt von Inflation ist die Verbesserung der Preisfindung an Märkten. Menschen mögen große Zahlen, weshalb sie davor zurückschrecken, Preise nominell zu senken - auch wenn dies aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll wäre. Eine gemäßigte Inflation kann diesen Effekt ausgleichen, da sie dafür sorgt, dass reale Preise sinken, solange es keine nominelle Preissteigerung gibt.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass eine gemäßigte Inflation erstrebenswert ist.

Genauso klar ist aber auch, dass sowohl eine zu niedrige Inflation (oder gar Deflation) als auch eine zu hohe Inflation schädlich ist.

Wodurch entsteht Inflation?

Wie wir oben gesehen haben muss die Frage eigentlich lauten: Wodurch entstehen Preissteigerungen? Dafür können verschiedene Ursachen gefunden werden, zum Beispiel kann ein Preisanstieg von grundlegenden Rohstoffen auf den Preis des Endprodukts durchgereicht werden. Für die Diskussion hier ist ein anderer Faktor wichtiger, nämlich die Nachfrage.

Die naive Betrachtungsweise ist, dass eine erhöhte Nachfrage nach einem Produkt zu einer Preissteigerung führt. Aber Moment: wenn ich als Produzent einer Ware die erhöhte Nachfrage sehe und dementsprechend meinen Preis steigere, so riskiere ich damit, Marktanteile an die Konkurrenz zu verlieren. Ich sollte also besser erst einmal meine Produktion steigern, vor allem wenn wegen einer Rezession Produktionskapazitäten brachliegen. Erst wenn die Produktion nicht mehr ohne langfristige Investitionen weiter gesteigert werden kann ist eine Preissteigerung zwangsläufig die logische Reaktion.

In der Realität wird die Wirtschaft auf eine Steigerung der Nachfrage also mit einer Mischung aus Preissteigerung und Produktionssteigerung reagieren. In den meisten (aber natürlich nicht allen) Fällen überwiegt dabei zunächst letzteres. Erst wenn die Produktionsfaktoren an ihre Grenze stoßen, z.B. wegen einem Mangel an Rohstoffen, Arbeitskräften oder Produktionsanlagen, wird eine Preissteigerung durch den Markt unabwendbar.

Damit kommen wir zu der natürlichen Frage ob eine Regierung, die langfristig Haushaltsdefizite fährt, dadurch eine überhöhte Inflation riskiert. Die Antwort darauf ist ebenso natürlich: es kommt darauf an, ob durch das Verhalten der Regierung die Nachfrage über die Produktionskapazität der Wirtschaft gehoben wird.

Die Vertreter von Modern Monetary Theory empfehlen, dass die Regierung ihren Haushalt an das Verhalten des privaten Sektors anpasst, und zwar so, dass durch die Nachfrage insgesamt die Kapazität der Wirtschaft voll ausgelastet ist, aber eben auch nicht mehr. Solange die Regierung dazu in der Lage ist, besteht das Risiko einer überhöhten Inflation also nicht (jedenfalls nicht als Folge des Staatshaushalts; überhöhte Inflation wegen Rohstoffknappheit etc. ist natürlich nie ausgeschlossen).

Es sollte betont werden: Vertreter von MMT sagen nicht, dass die Regierung in jedem Fall ständig ein Haushaltsdefizit fahren soll. Ob ein Defizit oder ein Überschuss angemessen ist hängt vom Verhalten des privaten Sektors ab. Was Vertreter von MMT sagen ist folgendes: wenn sich die Regierung vernünftig verhält, und sich das Verhalten des privaten Sektors nicht wesentlich gegenüber dem, was wir heutzutage beobachten, verändert, dann wird die Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach langfristig ein Defizit fahren - und dieses Defizit ist für eine souveräne Regierung vollkommen unproblematisch.

Was geschieht, wenn der private Sektor sein Verhalten ändert?

Zum Beispiel könnte es sein, dass der private Sektor seine Sparquote senkt und dadurch die Nachfrage erhöht. Dann ist der Ratschlag von Modern Monetary Theory, dass die Regierung ihr Defizit senken bzw. einen Überschuss anstreben sollte. Dies kann sie entweder durch Senkung der Ausgaben oder durch Erhöhung der Steuern erreichen.

Welche dieser beiden Maßnahmen ergriffen werden sollte, bzw. in welcher Mischung, hängt dabei lediglich von den politischen Zielen der Regierung ab. Teilweise geschieht die Anpassung des Haushalts von alleine durch automatische Stabilisatoren, idealerweise durch eine Job Guarantee - über die ich ich hier ein andermal schreiben werde.

Wenn die automatischen Stabilisatoren nicht ausreichen, kann die Regierung weitere Ausgaben senken. Aber irgendwann wird das nicht mehr möglich sein, weil zumindest die Grundfunktionen des Staates gewährleistet werden müssen. Spätestens dann muss die Regierung entweder die Steuern anheben, und dem privaten Sektor dadurch nominale Kaufkraft wegnehmen, oder sie muss eine erhöhte Inflation in Kauf nehmen.

Aha! wird jetzt vielleicht manch einer sagen. Also führen die Defizite ja doch zur Inflation oder müssen irgendwann ausgeglichen werden. Wenn der private Sektor sein Verhalten ändert, dann vielleicht ja - je nachdem, wie flexibel die Produktionskapazität der Wirtschaft ist.

Denn der zentrale Punkt ist folgender: in jedem Zeitraum können die Menschen höchstens so viel kaufen, wie die Wirtschaft auch in der Lage ist, real zu produzieren. Wer ein Sparvermögen anlegt erhofft sich dabei, in der Zukunft mit diesem Sparvermögen reale Güter oder Dienstleistungen kaufen zu können. Wenn die Wirtschaft in der Zukunft dann nicht leistungsfähig genug ist, um die erhofften realen Dinge auch produzieren zu können, dann hat man Pech gehabt.

Diese einfache Beobachtung gilt immer und hat nichts mit dem Haushaltsdefizit zu tun. Ein langfristiges Haushaltsdefizit ermöglicht es dem privaten Sektor lediglich, die Sparvermögen aufzubauen, von denen sich später womöglich herausstellen könnte, dass sie nicht so viel wert sind wie sich die Sparer erhofft haben. Ob sich der reale Wert der Sparvermögen so entwickelt wie erhofft hängt aber - wie die Diskussion oben zeigt - ganz wesentlich davon ab, ob die Produktionskapazitäten der Wirtschaft in Zukunft ausreichen werden, um steigende Nachfrage zu absorbieren.

Was Modern Monetary Theory nun sagt ist, dass die Regierung dafür sorgen sollte, dass die Produktionskapazitäten der Wirtschaft möglichst weitgehend ausgelastet sind, einerseits um der Bevölkerung einen hohen Lebensstandard in der Gegenwart zu ermöglichen, anderseits aber auch in der durchaus berechtigten Hoffnung, dass sich die Produktionskapazitäten dadurch langfristig vergrößern, was den zukünftigen Wert der angelegten Sparvermögen garantiert und den realen Lebensstandard der Bevölkerung weiter verbessert.

(Kleine ökologische Nebenbemerkung: aus volkswirtschaftlicher Sicht bedeutet eine Vergrößerung der Produktionskapazitäten nicht unbedingt ein höheres Materialvolumen, sondern kann sich auch in einer qualitativen Verbesserung der Produkte und Dienstleistungen äußern. Eine ökologisch denkende Regierung sollte versuchen, durch gezielte Impulse das Wirtschaftswachstum in diesem qualitativen Sinn zu lenken.)

Die klassischen Einwände gegen eine Regierung, die ihren Haushalt zur Auslastung der Wirtschaft einsetzt, sind also unbegründet.

Trotzdem muss man natürlich anerkennen, dass die Sparvermögen, die durch die langfristigen Defizite ermöglicht werden, aus anderweitigen Gründen politisch ungewollt sein können. Wenn die Vergrößerung der Sparvermögen einhergeht mit einer wachsenden Ungleichverteilung zwischen Armen und Reichen, dann ist dies eine ganz konkrete Gefahr für eine Demokratie. Zudem können wachsende Sparvermögen vielleicht einen durchgeknallten Finanzsektor fördern, der wiederum mit Risiken verbunden ist. Aus solchen Gründen ist es sinnvoll, über gezielte Maßnahmen zur Begrenzung von hohen Sparvermögen - wie zum Beispiel eine progressive Vermögenssteuer - nachzudenken. Aber das ist ein anderes Thema, über das ich vielleicht ein andermal schreiben werde.

Der Goldstandard und das Wort "Inflation"

Wenn ein langfristiges Staatsdefizit also für einen souveränen Staat so unproblematisch ist, woher kommt dann die allgemeine Furcht davor? Zum einen ist es wichtig zu verstehen, dass es mächtige Interessen gibt, die von dieser Furcht profitieren. Aber auch darüber hinaus gibt es doch Argumente, die für diese Furcht sprechen - oder? Es ist wichtig zu verstehen, warum diese "Argumente" falsch sind, also will ich auf einige davon eingehen.

Früher, in grauer Vorzeit, waren Währungen an einen Goldstandard gekoppelt. Das bedeutet, dass die Regierungen versprachen, Geld gegen Gold zu einem festen Preis umzutauschen. Das Geld hatte also einen intrinsischen Wert, nämlich den Wert der entsprechenden Goldmenge.

In diesem festen Rahmen ist es der Regierung nur dann möglich, ein langfristiges Defizit zu fahren, wenn sie dieses durch den Verkauf von Schuldpapieren finanzieren kann. Wenn sie trotzdem mehr Geld ausgeben will ohne dies durch Schuldpapiere auszugleichen, muss sie entweder die Deckung des Geldes durch Gold reduzieren. Darunter versteht man, dass die Regierung nur einen Bruchteil des insgesamt im Umlauf befindlichen Geldes zu Gold tauschen kann. Die USA haben z.B. lange Zeit mit einer Deckung von 40% operiert und sind dadurch das Risiko eingegangen, womöglich irgendwann nicht mehr genug Gold in Reserve zu haben, wenn ein Run auf Gold entstanden wäre.

Oder die Regierung verändert den Umtauschfaktor von Geld zu Gold. Dadurch verringert sich der intrinsische Wert des Geldes und man spricht von "Aufblähung" der Geldmenge, weil die Regierung nun netto mehr Geld ausgeben kann, ohne die Deckung zu reduzieren. Das lateinische Wort für "Aufblähung" ist "Inflation".

Aber Moment! Entsteht dadurch denn tatsächlich erhöhte Inflation in unserem heutigen Sinne? Heutzutage versteht man unter Inflation eine Preissteigerung, und in diesem Szenario steigt natürlich per Definition der Preis von Gold, so viel ist klar. Aber steigen auch die anderen Preise? Insbesondere stellt sich die Frage: steigt der Preis des Warenkorbs, über den Inflation definiert wird?

Definieren wir also ein erstes Szenario: ein abgeschlossenes Goldstandard-System ohne Außenhandel, in dem die Regierung den Goldpreis erhöht, jedoch zunächst ohne das Haushaltsdefizit zu verändern.

Weiter oben haben wir uns überlegt, wodurch eine Preissteigerung entstehen kann: einerseits durch höhere Rohstoffpreise. Gold wird aber außer in Schmuck nur in eher geringen Mengen eingesetzt, von daher wird dieser Effekt auf die Inflation gering ausfallen. Andererseits kann Inflation potentiell durch erhöhte Nachfrage entstehen. Solange die Regierung ihr Haushaltsdefizit nicht ändert, wird sich aber auch die Nachfrage nicht ändern - bis auf denkbar minimale Effekte durch Menschen, die im Goldbesitz sind und dieses verkaufen, um sich dafür andere Dinge zu leisten. In diesem ersten Szenario ist also keine erhöhte Inflation zu erwarten, obwohl die Regierung den "Wert des Geldes" senkt.

Sobald die Regierung den niedrigeren Geldwert ausnutzt um ihr Haushaltsdefizit zu erhöhen, wird Inflation durch steigende Nachfrage möglich, aber auch da gilt wieder die Überlegung, dass die Wirtschaft die steigende Nachfrage zunächst durch Produktionssteigerungen ausgleichen kann.

Die Annahme eines abgeschlossenen Systems ist natürlich unrealistisch. In Wirklichkeit führt die Änderung des Goldpreises durch die Regierung zu einer Anpassung der Wechselkurse. Dadurch werden Importe teurer und die Nachfrage steigt in Form steigender Exporte. Beide Effekte tendieren zu einer erhöhten Inflation. Wie stark diese ausfällt hängt davon ab, wie groß der Einfluss des Außenhandels auf die Wirtschaft ist.

Soweit die Überlegungen zu einem Goldstandard-System: Inflation entsteht auch in einem Goldstandard-System nur so weit durch den reduzierten "Wert des Geldes", wie sich dieser auf den Außenhandel auswirkt. Jeder weitere signifikante Inflations-Effekt entsteht nicht durch den reduzierten "Wert des Geldes", sondern durch einen Anstieg von Nachfrage relativ zu den Produktionskapazitäten der realen Wirtschaft, wie ich ihn bereits besprochen habe.

Wie sieht es nun in einem Fiat-Geldsystem mit souveräner Regierung aus? Hier hat Geld keinen intrinsischen Wert. Von einem reduzierten "Wert des Geldes" zu sprechen ist also vollkommen unsinnig. Die naive Denke von "mehr Geld = mehr Inflation", die sich auch aus der Sprache des Goldstandards ergibt, ist selbst im Goldstandard-System falsch. In einem Fiat-System bricht sie vollständig in sich zusammen.

Modern Monetary Theory bietet einen Rahmen, um Inflation in Bezug auf das Haushaltsdefizit in einem Fiat-Geldsystem zu untersuchen. Dort kommt man zum Schluss, dass ein Haushaltsdefizit nur dann zu Inflation führt, wenn es zu hoch ist. Wie hoch ist zu hoch? Kommt drauf an. Manchmal kann die Grenze durchaus bei null liegen, also bei einem ausgeglichenen Haushalt, aber das ist dann einfach Zufall.

Quantitätstheorie

Mainstream-Ökonomen argumentieren sehr gerne, dass eine höhere "Geldmenge" (egal welche von den vielen vollkommen verschiedenen Definitionen ihnen gerade ins Konzept passt) zu Inflation führen wird. Sie haben so auch die letzten zwei Jahre angesichts der Maßnahmen der Zentralbanken weltweit argumentiert, und kaum jemand scheint es ihnen übel zu nehmen, dass das Inflationsgeunke ganz offensichtlich vollkommen unbegründet war. Um dieses Gerede zu durchschauen muss man verstehen, dass sich dahinter die Quantitätstheorie versteckt.

Die Quantitätstheorie wird ungefähr so hergeleitet. Sei M die "Geldmenge", P das Preisniveau, und Q die Menge umgesetzter Güter pro Zeiteinheit. Dann kann man einen Proportionalitätsfaktor erfinden, um diese Größen in eine Gleichung zu pressen. Man nennt ihn V, die "Umlaufgeschwindigkeit des Geldes", und kommt so zu der Gleichung:

MV = PQ

Eigentlich ist schon hier klar, dass die Quantitätstheorie als Theorie wenig brauchbar ist, denn natürlich kann man beliebige Proportionalitätsfaktoren erfinden um Gleichungen hinzuschreiben, aber da V außerhalb des Gedankengebäudes der Quantitätstheorie bedeutungslos und nicht direkt messbar ist, ist diese Gleichung wenig erhellend.

Zugegeben, selbst in der Physik gibt es solche Proportionalitätsfaktoren. Lange Zeit war die Fallbeschleunigung auf der Erde ein solcher Faktor. Nur: erstens haben sich die Physiker damit nicht zufrieden gegeben. Inzwischen können sie diesen Faktor aus den Gravitationsgesetzen erklären, die zwar auch wieder mit der Gravitationskonstante einen beliebigen Faktor enthalten, aber besonders glücklich sind die Physiker darüber ja auch nicht. Zweitens sprechen die empirischen Befunde dafür, dass die verbleibenden Proportionalitätsfaktoren in der Physik universelle Konstanten sind.

Die "Umlaufgeschwindigkeit des Geldes" V ist aber alles andere konstant und variiert ziemlich wild. Spätestens mit dieser Erkenntnis sollte man die Quantitätstheorie vernünftigerweise als hoffnungslosen Fall aufgeben.

Aber Mainstream-Ökonomen machen trotzdem weiter. Sie behaupten einfach: V und Q sind konstant. Also verdoppeln sich mit einer Verdopplung der Geldmenge auch die Preise. Das ist aber einfach falsch, wie man praktisch überall an den empirischen Fakten sieht, hier zum Beispiel im Vergleich US CPI vs. Geldmenge.

Die typische Ausrede ist dann, dass man sich die falsche Definition von Geldmenge ansieht, auch wenn es in Wirklichkeit einfach keine Definition von Geldmenge gibt, mit der die Vorhersage richtig wird. Vermutlich stammt die große Zahl von Geldmenge-Definitionen auch aus diesen erfolglosen Versuchen, die Quantitätstheorie zu reparieren. Offenbar gibt es hier einige Gläubige, die einfach ihre Definition von Gott verändern, sobald man ein rationales Argument dargelegt hat, das zeigt, wie unplausibel die Existenz Gottes ist.

Andere erklären dann, die Quantitätstheorie sei trotzdem richtig, weil V und Q nicht unbedingt konstant sind - und widersprechen damit genau dem, was sie erst fünf Minuten vorher selbst behauptet haben.

Aber nein, reden sie sich heraus, so haben sie das ja gar nicht gemeint. V und Q seien nur langfristig konstant, behaupten sie dann, ungeachtet dessen, dass V und Q über praktisch alle bisher betrachteten Zeiträume nicht konstant sind. Praktischerweise legen sich diese Ökonomen auch nicht darauf fest, wie groß die Zeiträume denn sind, die sie mit "langfristig" meinen.

Auf diese Art, "Wissenschaft" zu betreiben, könnten wir nun wirklich verzichten.

Und das Fazit?

Um Inflation ranken sich jede Menge Legenden, viele aus der längst vergangenen Zeit des Goldstandards, die meisten von ihnen gar frei erfunden. Nüchtern betrachtet ist ein geringes Maß an Inflation sinnvoll, und sowohl zu geringe als auch zu hohe Inflation schädlich.

Eine souveräne Regierung kann die Ziele moderate Inflation und (nahezu) volle Auslastung der Wirtschaft, inklusive echter Vollbeschäftigung (definiert als weniger als 2% Arbeitslosigkeit bei null Unterbeschäftigung) problemlos erreichen, wenn sie sich die Erkenntnisse von Modern Monetary Theory zunutze macht.

Dabei ist nicht auszuschließen, dass sich angelegte Sparvermögen in manchen Situationen als real weniger wertvoll als erhofft herausstellen. Diese Möglichkeit besteht aber immer, und mit den Erkenntnissen von Modern Monetary Theory kann eine Regierung auf reale volkswirtschaftliche Resultate zielen, die in jedem Fall mindestens so gut wie, und in vielen Fällen besser als die Resultate der klassischen, pro-zyklischen Sparkurs-Politik sind, auf die die heutige Diskussion in fast allen Staaten weltweit hinausläuft.

Coda

Unfug wie die Quantitätstheorie hält sich auch deshalb so hartnäckig, weil es der menschlichen Natur widerstrebt, eine einmal widerlegte Theorie kategorisch abzulehnen. Lieber gehen Menschen dazu über, dass ja vielleicht doch "ein klein bißchen Wahrheit" daran sein könnte.

Dazu möchte ich den großartigen Douglas Adams zitieren, der diese Denkweise wie folgt parodiert hat:

A man didn't understand how televisions work, and was convinced that there must be lots of little men inside the box, manipulating images at high speed. An engineer explained to him about high frequency modulations of the electromagnetic spectrum, about transmitters and receivers, about amplifiers and cathode ray tubes, about scan lines moving across and down a phosphorescent screen. The man listened to the engineer with careful attention, nodding his head at every step of the argument. At the end he pronounced himself satisfied. He really did now understand how televisions work. "But I expect there are just a few little men in there, aren't there?"

Ihm ging es dabei um die Kreationismusdebatte, aber ich habe diese Art von Reaktion auch in Diskussionen über Volkswirtschaft schon oft genug beobachtet.

Montag, Oktober 11, 2010

Unsichtbare Revolutionen

Welche Veränderungen des letzten Jahrhunderts haben unsere Gesellschaft am stärksten (um)geformt?

Eine spannende Frage, finde ich, mit vielen möglichen Antworten. Man kann sie aus politisch-historischer Perspektive beantworten mit den Geschehnissen, die später einmal in den Geschichtsbüchern stehen werden: die Weltkriege und der Kalte Krieg; die sozialen Veränderungen wie die Emanzipation der Frauen und die Umweltbewegung. Bei dieser Perspektive muss man allerdings aufpassen, ob man nicht womöglich Symptome und Resultate aus Versehen für Ursachen hält.

Schließlich ist die Frage nicht, in welcher Hinsicht sich unsere Geselltschäft (um)geformt hat, sondern warum sie sich (um)geformt hat.

Die meisten Menschen werden auf die Frage nach den Auslösern wahrscheinlich aus einer technischen Perspektive antworten und Erfindungen bzw. Entwicklungen wie das Auto, das Fernsehen, digitale Armbanduhren, Computer, Handys, und das Internet nennen. Das 20. Jahrhundert war auch tatsächlich ein Jahrhundert atemberaubend schneller technischer Entwicklung.

Aber dennoch bin ich von diese Antworten nicht so recht befriedigt. Es gibt andere Veränderungen, die sich langsam vollziehen und subtil, so dass wir ihrer meist nicht so recht bewusst sind und sie nicht hinterfragen. Gerade deshalb können sie aber unser Denken so vollkommen verändern, dass wir uns wenigsten ab und zu explizit mit ihnen auseinandersetzen sollten.

Heute will ich zwei Kandidaten vorstellen, von denen ich glaube, dass sie zu den wichtigsten "unsichtbaren Revolutionen" des letzten Jahrhunderts zählen.

1. Die Klaustrophobie der Menschheit

Seit Mitte des letzten Jahrhunderts haben wir Fotos der Erde - und wir finden das normal! Dabei ist es ein symbolischer Höhepunkt für gleich zwei jahrhundertelange Entwicklungen.

Zum einen wurde der Menschen zunehmend aus dem Zentrum des Universums gedrängt. Viele Menschen haben mit dieser Vorstellung so ihre Schwierigkeiten.

Zum anderen leben wir heute mit dem Gefühl, dass es keine weißen Flecken auf den Landkarten mehr gibt. Die plausible Existenz von Abenteuer jenseits der Grenzen unseres Horizonts ist uns durch die moderne Technik genommen worden.

Diese Sicht ist zwar einerseits nicht wirklich richtig. Es ist ja schon ein Klischee, dass wir über die Tiefsee (anscheinend) weniger wissen als über den Weltraum. Unerkundetes gibt es also eigentlich genug, aber das vorherrschende Gefühl ist ein anderes.

Unser Verständnis von uns selbst und unserer Welt muss sich dadurch geändert haben, und ich bin mir selbst nicht ganz im Klaren wie, und ob in guter oder in schlechter Richtung. Die eingangs erwähnte Umweltbewegung nährte sich ganz sicher auch aus dem gewachsenen Bewusstsein, dass die Erde alles ist, das wir haben.

Auf der anderen Seite hatten Gesellschaften früher immer ein Ventil für ihre Hyperaktiven, indem sie sie (bestenfalls) als Entdecker oder (schlimmstenfalls) als Eroberer ins Unbekannte geschickt haben. Dieses Ventil existiert auf der Erde nicht mehr in dieser Form, und ich frage mich, ob man nicht bewusst eine Besiedlung des Weltraums auch aus diesem Grund anstreben sollte.

Natürlich würden wir auch trotz Besiedlung des Weltraums nie mehr (modulo eines vollkommenen Zusammenbruchs unserer heutigen Zivilisation) in den Zustand zurückkehren, in dem wir eine Gegend erkunden müssen, indem wir sie persönlich besuchen. Erkundungssatelliten werden in der interplanetaren Raumfahrt immer eine Rolle spielen bevor tatsächlich Siedlungen gebaut würden.

Dennoch sollten wir uns die Frage stellen: leidet die Menschheit an Klaustrophobie? Ich persönlich sehne mich tatsächlich ab und zu nach weißen Flecken auf der Landkarte, auch wenn ich intellektuell natürlich weiß, dass es im Prinzip noch genug zu entdecken gäbe. Ob es einem signifikanten Teil der Bevölkerung bewusst oder unbewusst ähnlich geht? Ich weiß es nicht - genau für solche Fragen gibt es eigentlich Geisteswissenschaften.

2. Der Mythos Wettkampf

Als ich in Fribourg auf den Joint Operations Research Days war ist mir bei einem Vortrag eines Doktoranden ein Kommentar aufgefallen, der eigentlich gar nicht mathematischer Natur war.

Der Redner meinte, wir Menschen seien im ständigen Konkurrenzkampf und Wettbewerb untereinander. In der Tat ist diese Vorstellung so weit verbreitet, dass Konkurrenzkampf nicht nur als normal gilt, sondern sogar normativ ist. Wettbewerb wird von vielen Menschen als Ziel an sich verstanden. Wer Wettbewerb und Konkurrenz hinterfragt wird höchstens milde belächelt.

Dabei ist die Vorstellung des ewigen Konkurrenzkampfs vollkommen falsch.

Ich schlage euch, meinen Lesern, hiermit ein Selbst-Experiment vor. Beobachtet euch eine Woche lang selbst und notiert bewusst, wann ihr mit anderen Menschen konkurriert, und wann eure Interaktionen mit anderen Menschen eher sozialer und kooperativer Natur sind.

Bei mir war das Ergebnis eindeutig: natürlich gibt es Konkurrenzsituationen, aber sie sind sehr deutlich in der Minderheit, verglichen mit anderen Arten der Interaktion. Ich würde wetten, dass selbst für irgendwelche Investmentbanker die klar überwiegende Mehrheit aller Interaktionen mit anderen Menschen von sozialer bzw. kooperativer Natur ist und mit Konkurrenz nichts zu tun hat.

Woher kommt also der Glaube, Konkurrenz dominiere unser aller Verhalten?

Eine wichtige Rolle spielt die banale Tatsache, dass Konkurrenz spektakulär ist. Nicht nur die Medien stürzen sich darauf, auch Wissenschaftler zieht sie in ihren Bann. Daraus entstand im letzten Jahrhundert die durchaus nützliche und interessante Spieltheorie. Darüber hat dann leider so mancher, der sich professionell mit dem Konkurrenzverhalten von Menschen beschäftigt, vergessen, dass diese Verhaltensweise in Wirklichkeit nur einen Bruchteil menschlichen Handelns ausmacht.

Verbunden hat sich das dann einerseits mit der ganz ähnlich entstandenen und ebenso absurden Vorstellung, dass der Homo oeconomicus ein vollständiges Bild der menschlichen Natur ist, und andererseits mit politischen Strömungen, die ihre Ideologien nur allzugern zur unverrückbaren Wahrheit definieren wollten.

Heraus kommt ein Weltbild, das von den Menschen verlangt, sich ständig wie in einer Konkurrenzsituation zu verhalten, obwohl das überhaupt nicht mit der menschlichen Natur zusammenpasst.

Dieses Weltbild hat sich schleichend entwickelt und unser gesamtes Denken unterwandert, und es sieht so aus, als würden wir uns dadurch mehr schaden als nützen.

Social Engineering

Es ist also wichtig zu verstehen, wie diese schleichenden Veränderungen funktionieren, wodurch sie ausgelöst werden, und welche Folgen sie haben. Aber es stellt sich auch die umgekehrte Frage: können wir solche schleichenden Veränderungen erzeugen, mit dem Ziel, bestimmte Aspekte unserer Gesellschaft zu verbessern?

Es geht also um Social Engineering - nicht zu verwechseln mit Social Engineering. Die Vorstellung davon löst sicher bei vielen Abstoßungsreflexe aus, und man muss schon ein sehr vertrockneter Technokrat sein, um dieser Idee vollkommen unkritisch gegenüberzustehen. Andererseits gibt es drei wichtige Gründe, die Abstoßungsreflexe zumindest zeitweise zu unterdrücken:

  1. Wie jede Technologie wäre auch diese stets zum Guten wie zum Bösen nutzbar.

  2. Social Engineering wird bereits in großem Stil eingesetzt, und zwar, wie ich persönlich finde, nicht gerade zu einem guten Zweck.

  3. Es gäbe einige implizite Glaubenssätze in unserer Gesellschaft, deren Veränderung vermutlich eine langfristige Besserstellung der breiten Bevölkerung zur Folge hätte.


Mit dem letzten Punkt meine ich nicht nur den bereits erwähnten Mythos des permanenten Konkurrenzkampfs, sondern zum Beispiel auch die vorherrschende Vorstellung des freien Markts, den der Staat auf jeden Fall alleine lassen muss weil sonst die Welt untergeht (oder so). Auch diese Vorstellung vom für die Gesellschaft positiven freien Markt gehört zu den unsichtbaren Revolutionen - ich habe sie eingangs nicht erwähnt, damit im Internet noch genug Platz bleibt. Dieser Post wird schließlich auch so sehr lang.

Kann man angesichts dieser - empirisch widerlegten - Vorstellung nicht etwas tun?

Es ist schwierig, einen einmal in die Welt gesetzten Mythos wieder zu entfernen. Aber vielleicht kann man ihn ja so verbiegen, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Schließlich können Märkte ja tatsächlich positive Resultate für die Gesellschaft erzielen, aber eben nur, wenn die Rahmenbedingungen richtig sind.

Über einen möglichen Weg dorthin bin ich gestolpert, als ich neulich hier einen Post geschrieben habe. Der Gedanke war dabei in etwa der folgende:

Demokratische Marktwirtschaft bedeutet: der Staat gestaltet die Märkte so, dass die Beteiligten derart gegeneinander ausgespielt werden, dass dabei das bestmögliche Resultat für die am schlechtesten gestellten Menschen im Land erzielt wird.

Durch diese Formulierung wird die Leistungsfähigkeit der Märkte nicht in Frage gestellt, eher im Gegenteil. Somit wird auch einem Hardliner der Ideologie des freien Marktes eher ermöglicht, dem Satz zuzustimmen und ihn als eigene Idee zu übernehmen. Gleichzeitig wird dieser Leistungsfähigkeit aber ein Ziel gegeben und die Idee ins Spiel gebracht, dass "der Markt" Hilfe braucht in Form eines gestaltenden Staates. Die Formulierung beinhaltet auch eine Komponente, die den Staat implizit über Firmen und Banken, gleichzeitig aber unter die Menschen stellt. Sie zementiert dadurch eine Schlüsselidee progressiven Denkens.

Ich weiß nicht, wie leicht oder schwer es wäre, diesen Satz ins Mainstream-Gedankengut einzuschleusen. Aber stellt euch einfach vor, in den Talkshowrunden Deutschlands wäre der oben zitierte Satz so selbstverständlich wie heutzutage die Vorstellung, der freie Markt würde ganz von alleine alles gut machen. Würde das nicht von ganz alleine zu einer deutlich besseren Politik führen?

Donnerstag, Oktober 07, 2010

The Design of Everyday Things

In diesem Buch schildert Donald Norman anhand vieler Beispiele guten und schlechten Designs die Prinzipien, nach denen benutzbare Gegenstände entworfen werden sollten. Seine Beispiel reichen von Türgriffen über Telefonsysteme bis zu Fabrikanlagen, ließen sich aber genauso auf Computerschnittstellen und Webseiten übertragen. Ich kann das Buch jedem empfehlen, der sich für das Thema Benutzbarkeit ein wenig interessiert.

Die meisten der Regeln, die Donald Norman aus psychologischen Erkenntnissen ableitet, sind zwar im Grunde einfach "nur" einleuchtende Banalitäten. Sich der grundlegenden Banalitäten so richtig bewusst zu werden ist aber nie verkehrt, zumal wenn dieser Vorgang durch sehr anschauliche Beispiele begleitet wird.

Über ein solches Beispiel bin ich selbst vor Kurzem in einem Regionalzug der Deutschen Bahn gestolpert. Die Türen zwischen Eingangsbereich und Sitzraum der Waggons waren in diesem Zug baulich von einer alten manuellen Tür nicht zu unterscheiden. Jede Tür hatte einen soliden Griff, der zum schwungvollen manuellen Öffnen und Schließen der Tür einlud.

Dummerweise war in die Türen aber eine Automatik eingebaut. Eine ganze Reihe von Fahrgästen - mich eingeschlossen - hat, von der Griffform verführt und in dem Willen, den Mitreisenden einen Gefallen zu tun, versucht, diese Türen zu schließen. Die Automatik verhinderte aber, dass sich die Türen vor Ablauf eines festen Zeitfensters wieder schließen ließen.

Regelmässige "Gewalt gegen Sachen" war die Folge, die weder der Psyche der Bahnfahrer noch der Türe selbst - und damit auch dem Budget der Bahn - besonders bekömmlich sein konnte.

Dieses Problem ist offenbar sogar jemandem aufgefallen, denn an den Türen waren kleine Aufkleber mit dem Aufdruck "Tür schließt automatisch" angebracht. Natürlich liest sowas erstens kein Mensch, und zweitens waren diese Aufkleber an vielen Türen wegen Abrieb ohnehin unleserlich.

Hätten die Designer dieser Türen das eingangs erwähnte Buch gelesen, so wäre ihnen klar gewesen, dass sie sich auf die Suche nach einer echten Lösung hätten begeben müssen.

Spontan fallen mir dazu zwei mögliche Ansätze ein. So könnte die Automatik vielleicht so gestaltet sein, dass sie sich nicht gegen ein Zuziehen der Tür wehrt. Alternativ könnte man die Griffe anders gestalten. Dass die zweite Option nicht gewählt wurde ist überraschend, weil sie bei den automatischen Türen in IC-Waggons zum Einsatz kommt. Die Griffe dieser Türen knicken beim Ziehen ab und signalisierem dem Benutzer dadurch, dass diese Türen nicht mit Kraftaufwand zu öffnen oder zu schließen sind, sondern dass es sich bei den Griffen in Wirklichkeit um eine Art Knopf oder Schalter handelt.

Es wäre so einfach.

Stattdessen leiden tagtäglich Menschen unter schlechtem Design, das den Alltag zwar nicht viel, aber doch vollkommen unnötig verkompliziert.

Freitag, Oktober 01, 2010

Auf de schwäb'sche Eisebahne...

Nachtrag: Hier ist ein sehr ausführlicher und empfehlenswerter Artikel, der sich mit der Diskussion um S21 auseinandersetzt. Einige der Contra-Argumente sind zwar eher contra S21 in seiner jetzigen Form und könnten im Prinzip ausgeräumt werden wenn man nur wollte, aber gerade deswegen wird um so klarer, dass ein Baustopp, eine ruhige Diskussion ohne Astroturfer, und danach ein Volksentscheid notwendig sind. So, und jetzt mein unveränderter ursprünglicher Kommentar.

... soll Schtuegart unterirdisch werden. Vorläufig ist jedoch erstmal nur die Politik der CDU unterirdisch.

Eigentlich dachte ich, ich halte mich zum Thema Stuttgart 21 zurück da schon genügend Senf im Umlauf ist. Aber es will partout nicht verschwinden, und die jüngsten Ereignisse, bei denen sich die Regierung mit dem Gestus der herrschaftsgewohnten Militärdiktatur gibt, sind wirklich unglaublich. Daher will ich doch kurz die Gedanken, die ich dazu seit längerem in mir trage, aufschreiben.

Zunächst zur Sache an sich. Ich sehe drei potentielle Probleme des Projekts Stuttgart 21.

1. Es erscheint mir etwas suspekt, dass der zukünftige Bahnhof nur 8 Gleise haben soll angesichts der 16 Gleise des heutigen Stuttgarter Bahnhofs. Natürlich läuft die Abfertigung der Züge in einem Durchgangsbahnhof flüssiger, aber jeder weiß, dass es im Bahnbetrieb zu Ausfällen kommt. Vielleicht muss an einer Oberleitung etwas repariert werden, vielleicht hat sich jemand vor einen einfahrenden Zug geworfen. Aus welchem Grund auch immer, Gleise müssen zeitweise gesperrt werden, und dann sollten Ausweichkapazitäten vorhanden sein.

Genau kann ich das zwar nicht beurteilen, weil ich keine Statistiken zur Belastung und Gleisschwierigkeiten in Durchgangsbahnhöfen habe, aber gerade bei einem so großen Infrastrukturprojekt sollte man nicht am falschen Ende sparen. Schließlich sollte der neue Bahnhof - so er denn gebaut wird - idealerweise die nächsten 100 Jahre oder länger ohne all zu aufwendige Umbau- und Renovierungsmaßnahmen brauchbar bleiben.

2. Ich kann verstehen, dass die Stuttgarter nicht ihr Stadtarchiv verlieren wollen. Wenn an der Theorie der Schwierigkeiten beim Tunnelbau und anderen Schlampereien etwas dran sein sollte, so muss das unbedingt korrigiert werden, auch wenn es die Kosten des Projekts erhöhen würde. Ich kann das selbst schlecht beurteilen, aber es spricht nicht gegen das Projekt an sich.

3. Es gäbe wohl im Eisenbahnnetz andere Stellen, an denen man mit der gleichen Geldmenge sinnvollere Verbesserungen erzielen könnte.

Dann argumentieren manche noch rein grundsätzlich mit den großen Kosten des Projekts, aber diese Argumentation ist angesichts der Tatsache, dass wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden, die durch fiskalische Impulse beendet werden könnte, ziemlich kurzsichtig. Zwar wären diese Impulse nicht gerade im reichen Süden Deutschlands notwendig, aber dieses Argument fällt eher unter Punkt 3.

Punkt 3 ist jedoch nicht, weshalb die Stuttgarter auf die Straße gehen, und die anderen Kritikpunkte sollten sich problemlos klären lassen. Von daher kann ich ehrlich gesagt überhaupt nicht verstehen, was die Leute dazu bringt, in Stuttgart zu demonstrieren, außer engstirnigem Konservatismus. Was die Sache angeht muss ich hier also überrascht feststellen, mit der CDU ausnahmsweise einer Meinung zu sein.

Trotzdem verhält sich die Landesregierung mit ihrem Beharren auf dem Weiterbau abgrundtief falsch, und auch Angela Merkel demonstriert mal wieder, dass sie nicht das Zeug zur vorbildlich demokratischen Staatsfrau hat.

Das war übrigens auch schon vor den Gewaltexzessen der Polizei klar.

Wenn im politikverdrossenen Deutschland die Menschen endlich demonstrieren gehen und dabei noch nicht mal eine Bahnsteigkarte kaufen, dann darf man dieses zarte Pflänzchen der Meinungsäußerung und politischen Partizipation nicht mit Füßen treten.

Intellektuelle Kreise haben in Deutschland verständlicherweise eine gewisse Scheu vor Volksentscheiden. Aber hier geht es nicht um das Grundgesetz. Es geht auch nicht um Menschenrechte oder die Prinzipien eines Rechtsstaates. Es geht um simple Lokalpolitik, bei der es gut und recht ist, wenn sich die Bürger ganz direkt und persönlich einmischen.

Lasst die Stuttgarter doch einfach in einem Volksentscheid abstimmen. Wenn sie dafür stimmen, gut. Wenn sie dagegen stimmen, noch besser: dann setzt man das für Stuttgart 21 eingeplante Geld eben anderswo sinnvoller ein.

Ja, natürlich gibt es eine Lobby von Bauunternehmern und ihren Freunden, die um ihre Aufträge fürchten, aber es heißt schließlich nicht Kapitalokratie, sondern Demokratie. Der in Deutschland so beliebte Politikerreflex auf den sich Mappus nun bezieht, alles gleich zur Vertrauensfrage zu erklären, die bei der nächsten Wahl entschieden werden soll, widert mich an.

Es geht hier nicht um Parteien, sondern um die Sache, also lasst über die Sache abstimmen.